BGB § 2325
Wertberechnung gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB und Fristbeginn gem. § 2325 Abs. 3 BGB bei Grundstücksüberlassung unter vorbehaltenem Nutzungsrecht; Verknüpfung beider Aspekte
I. Sachverhalt
Frau S. hat im Jahr 1994 ein mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück unter Nießbrauchsvorbehalt auf ihre Tochter übertragen. Im Jahr 2023 verstarb Frau S. Im Zeitpunkt der Übertragung war das Grundstück inflationsbereinigt noch 390.000,00 € wert; im Zeitpunkt des Todes von Frau S. betrug der Wert nur noch 330.000,00 €.
Ein weiteres Kind von Frau S. macht nun Pflichtteilergänzungsansprüche gegen die Tochter geltend. Nach dem Niederstwertprinzip des § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB kommt der Wert von 330.000,00 € zum Ansatz. In diesem Fall darf nach der Rechtsprechung des BGH der Nießbrauch nicht wertmindernd abgezogen werden, weil der Nießbrauch im maßgeblichen Betrachtungszeitpunkt (Tod der Frau S.) erloschen ist.
II. Frage
Bleibt der vorbehaltene Nießbrauch auch bei der Bestimmung des Beginns der 10-Jahres-Frist nach § 2325 Abs. 3 BGB unberücksichtigt, wenn gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB der Wert der übertragenen Immobilie im Zeitpunkt des Todes zugrunde zu legen ist und dabei nach der Rechtsprechung des BGH der Nießbrauch nicht wertmindernd abgezogen werden darf, mit der Folge, dass die 10-Jahres-Frist dann bereits im Jahr 1994 zu laufen begonnen hätte?
III. Zur Rechtslage
1. Wertberechnung gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB und vorbehaltenes Nutzungsrecht
Bei der Bemessung des Schenkungswerts nach § 2325 Abs. 2 BGB im Rahmen der Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs kann nach ständiger Rechtsprechung des BGH der kapitalisierte Wert eines vorbehaltenen Nutzungsrechts vom Wert des Grundstücks in Abzug gebracht werden, unabhängig davon, ob das Nutzungsrecht, das vorbehalten wurde, als Gegenleistung oder als Auflage vereinbart war (vgl. BGH NJW-RR 1996, 705; NJW-RR 1990, 1158). Der BGH geht folglich davon aus, dass der Wert der vorbehaltenen Nutzung den Wert des geschenkten Gegenstandes vermindert, mit der Begründung, der Pflichtteilsberechtigte sei (lediglich) so zu stellen, als sei der Gegenstand zur Zeit der dinglichen Vollziehung der Schenkung in Geld umgesetzt worden (BGH NJW 1992, 2887).
Allerdings kann der kapitalisierte Wert des Nutzungsrechts nach der (umstrittenen) Rechtsprechung des BGH nur dann vom Schenkungsgegenstand in Abzug gebracht werden, wenn es im Rahmen des § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB nach dem sogenannten Niederstwertprinzip auf den niedrigeren Wert des Schenkungsgegenstandes zum Zeitpunkt der Schenkung ankommt. Kommt es dagegen auf den Wert zum Zeitpunkt des Eintritts des Erbfalles an, würde ein Wertabzug nach der Rechtsprechung ausscheiden, zumal zu diesem Zeitpunkt das Nutzungsrecht regelmäßig erlischt (vgl. dazu zuletzt BGH NJW-RR 2006, 877; Überblick bei BeckOGK-BGB/A. Schindler, Std.: 1.10.2024, § 2325 Rn. 183 ff.; BeckOK-BGB/Müller-Engels, Std.: 1.11.2024, § 2325 Rn. 40 ff.).
Die referierte Auffassung des BGH zur Behandlung vorbehaltener Nutzungsrechte bei der Bewertung ist – insbesondere bei vergleichender Betrachtung der damit im Ergebnis gewonnenen Bewertungsansätze – wenig plausibel und stößt dementsprechend in der Literatur auf Kritik (Überblick z. B. bei Schlitt, in: Schlitt/Müller-Engels, Handbuch Pflichtteilsrecht, 3. Aufl. 2024, § 6 Rn 13 ff.; Pawlytta, in: Mayer/Süß/Riedel/Bittler, Handbuch Pflichtteilsrecht, 5. Aufl. 2024, § 5 Rn. 114 ff.). Eine Gegenauffassung steht auf dem Standpunkt, der Wert des vorbehaltenen Nutzungsrechts sei unter keinen Umständen vom Wert des Zuwendungsobjekts abziehbar (so etwa Leipold, JZ 1994, 1121, 1122 f.; Liedel, MittBayNot 1992, 238, 239 ff.). Es sei mit dem Gerechtigkeitsempfinden nicht vereinbar, wenn der Abzug des Nießbrauchs davon abhängig sein soll, ob der Wert des Grundstücks zwischen der Schenkung und dem Erbfall – ggf. nur geringfügig – gestiegen sei oder nicht. Es liege ein zeitlich gestreckter Vermögenserwerb vor, der sich erst mit dem Tod des Erblassers vollende. Die direkt konträre Position will den Nutzungswert hingegen immer abziehen, mag der Gegenstandswert beim Schenkungsvollzug oder beim Erbfall für die Pflichtteilsergänzung maßgeblich sein (so z. B. Link, ZEV 2005, 283, 285 f.; N. Mayer, ZEV 1994, 325, 326). Der Nutzungswert stelle einen eigenständigen wirtschaftlichen Wert dar, den der Schenker nicht übertrage, sondern für sich nutze – so erspare sich der Schenker anderweitige Mietzahlungen, was durch diese Ersparnis unmittelbar den Nachlasswert erhöhe. Am Nachlasswert partizipiere der Pflichtteilsberechtigte ohnehin bereits über seinen (ordentlichen) Pflichtteilsanspruch (Pawlytta, § 5 Rn. 117). Die zuletzt referierte Sichtweise halten wir für wirtschaftlich stimmig und sachgerecht. Die vertragsgestaltende Praxis muss gleichwohl bis auf Weiteres die anderslautende Judikatur des BGH zugrunde legen.
2. Fristanlauf gem. § 2325 Abs. 3 S. 1 u. 2 BGB und vorbehaltenes Nutzungsrecht
Zur Frage des Fristanlaufs nach § 2325 Abs. 3 S. 1 u. 2 BGB bei Vorbehalt eines Nutzungsrechts hat der BGH in seiner grundlegenden Entscheidung vom 27.4.1994 (DNotZ 1994, 784 m. Anm. Siegmann) für einen Sachverhalt, bei dem sich der Erblasser am lebzeitig übertragenen Grundbesitz – wie auch vorliegend – einen umfassenden Nießbrauch vorbehalten hatte, entschieden, dass eine solche Schenkung unabhängig vom dinglichen Vollzug (Eigentumsumschreibung) gem. § 2325 Abs. 1, 3 BGB ergänzungspflichtig bleibt, weil der Schenker durch den vorbehaltenen Nießbrauch den „Genuss“ des verschenkten Gegenstandes nicht aufgegeben habe. Der BGH hat dabei weiterhin ausgeführt, dass eine Leistung i. S. v. § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB nur dann vorliege, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgegeben, sondern auch darauf verzichtet habe, den verschenkten Gegenstand im Wesentlichen weiterhin zu nutzen. Hierbei sei unerheblich, ob die weitere Nutzung aufgrund eines vorbehaltenen dinglichen Rechts oder durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche erfolge (zustimmend referiert etwa bei Grüneberg/Weidlich, BGB, 84. Aufl. 2025, § 2325 Rn. 26).
3. Keine Verknüpfung von § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB und § 2325 Abs. 3 BGB
Gegen eine Verknüpfung der Frage des Wertansatzes nach dem Niederstwertprinzip gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB und des Fristanlaufs nach § 2325 Abs. 3 BGB in der angedachten Weise (keine Berücksichtigung des Nießbrauchs im Rahmen des § 2325 Abs. 3 BGB, wenn im Rahmen des § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB nach den Niederstwertprinzip auf den Zeitpunkt des Erbfalls abzustellen und deswegen der Nießbrauchswert nicht abzuziehen ist) hat sich der BGH bereits in seiner genannten Grundsatzentscheidung (DNotZ 1994, 784, 786) recht deutlich ausgesprochen. Er führt dort u. a. aus (unter Ziff. I 3):
„Aus dem Umstand, dass die Erblasserin die Nutzung hier bis zu ihrem Tode nicht entbehrt hat, folgt zwar, dass die Grundstücke dem Pflichtteilsergänzungsanspruch unterliegen. Das bedeutet aber nicht, dass der Erbfall der für ihre Bewertung maßgebliche Stichtag sei, wie der Kläger meint. Das Berufungsgericht hat vielmehr richtig erkannt, dass insoweit § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB anzuwenden ist. Danach ist zunächst zu prüfen, ob die Grundstücke ohne Berücksichtigung der vorbehaltenen Rechte im Zeitpunkt der Umschreibung im Grundbuch inflationsbereinigt weniger wert waren als beim Erbfall (vgl. dazu BGHZ 118, 49, 50 = NJW 1992, 2887 […]). Ist dies der Fall, kommt es auf die Differenz zwischen dem Grundstückswert und dem Wert der vorbehaltenen Rechte im Zeitpunkt der Umschreibung im Grundbuch an, mag dieser Stichtag auch mehr als 10 Jahre vor dem Erbfall liegen.
Die unterschiedlichen Zielvorgaben des Gesetzgebers zu § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB einerseits und zu § 2325 Abs. 3 Hs. 1 BGB andererseits lassen eine Auslegung dieser Vorschriften von einem einheitlichen Ansatz her nicht zu […].“
Diese Ausführungen lassen sich nur so verstehen, dass der Wertansatz nach dem Niederstwertprinzip gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB einerseits und der Fristanlauf gem. § 2325 Abs. 3 S. 1 u. 2 BGB anderseits getrennt voneinander zu prüfende Teilfragen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs darstellen. Ist – wie in dem unterbreiteten Sachverhalt – der nach dem Niederstwertprinzip gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB maßgebende Zeitpunkt derjenige des Erbfalles und ist der Nießbrauch deswegen im Rahmen dieser Wertberechnung nach der bislang ständigen Rechtsprechung des BGH nicht abziehbar, so folgt daraus gleichwohl nicht, dass er für die vom BGH vertretene Hemmung des Fristanlaufs gem. § 2325 Abs. 3 BGB ausnahmsweise ebenso unberücksichtigt zu bleiben habe. Die vom BGH für seine Rechtsprechung zur Hemmung des Fristanlaufs beim vorbehaltenen Nießbrauch gegebene Begründung macht dies indirekt nochmals deutlich. Der BGH nimmt für seine Rechtsprechung den historischen Gesetzgeber (Prot. V, S. 587, 588) in Anspruch und führt hierzu aus: Von dem fiktiven Nachlass, aus dem der Pflichtteilsergänzungsanspruch berechnet wird, habe der Gesetzgeber nur solche Schenkungen ausnehmen wollen, deren Folgen der Erblasser längere Zeit hindurch zu tragen und in die er sich daher einzugewöhnen hatte. Darin habe der Gesetzgeber eine gewisse Sicherheit vor „böslichen“ Schenkungen gesehen, durch die Pflichtteilsberechtigte benachteiligt werden sollten. Deshalb gelte eine Schenkung nicht als i. S. v. § 2325 Abs. 3 Hs. 1 BGB geleistet, wenn der Erblasser den „Genuss“ des verschenkten Gegenstandes nach der Schenkung nicht auch tatsächlich entbehren müsse.
Diese für die Begründung der Hemmung des Fristanlaufs beim vorbehaltenen Nießbrauch aus Sicht des BGH tragende Bewertung ist offensichtlich ganz unabhängig davon, ob im Rahmen der andersartigen Frage der Wertbemessung gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB auf den Zeitpunkt der Schenkung (mit der Folge des Abzugs des kapitalisierten Nießbrauchwertes) oder auf den Zeitpunkt des Erbfalls (mit der Folge des Nichtabzugs) abzustellen ist. Bei beiden Fallgestaltungen hat der Erblasser, wenn er sich anlässlich der Überlassung zu seinen Gunsten einen Nießbrauch vorbehalten hat, den Genuss des verschenkten Gegenstandes nicht tatsächlich entbehren müssen.
Zwar stößt die ständige Rechtsprechung des BGH zur Hemmung des Fristanlaufs gem. § 2325 Abs. 3 S. 1 u. 2 BGB im Falle eines Nießbrauchsvorbehalts in der Literatur vielfach auf Kritik (exemplarisch etwa Muscheler, Erbrecht, Bd. II, 2010, Rn. 4251; Lange, Erbrecht, 3. Aufl. 2022, § 91 Rn. 140; BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2325 Rn. 54). Für die Vertragsgestaltungspraxis wird man diese ständig fortgeführte Rechtsprechung gleichwohl zugrunde legen müssen.
4. Ergebnis
Ist ein vorbehaltener Nießbrauch vom Schenkungswert eines Grundstücks gem. § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht abziehbar, weil im Rahmen des Niederstwertprinzip auf den Schenkungswert zum Zeitpunkt des Erbfalls abzustellen ist, so ändert dies aus Sicht der Rechtsprechung gleichwohl nichts daran, dass der vorbehaltene Nießbrauch auch bei einer solchen Fallgestaltung den Fristanlauf gem. § 2325 Abs. 3 S. 1 u. 2 BGB mangels Vorliegens einer „Leistung“ im vom BGH verstandenen Sinne hemmt.