30. Oktober 2020
BGB § 2314

Notarielles Nachlassverzeichnis; Ermittlungen des Notars hinsichtlich des fiktiven Nachlasses; Überlassung von Kopien der Kontoauszüge an den Pflichtteilsberechtigten

BGB § 2314
Notarielles Nachlassverzeichnis; Ermittlungen des Notars hinsichtlich des fiktiven Nachlasses; Überlassung von Kopien der Kontoauszüge an den Pflichtteilsberechtigten

I. Sachverhalt
Der Notar wurde mit der Erstellung eines Nach­lassverzeichnisses beauftragt. Der Erbe legte dem Notar die Kontoauszüge der letzten zehn Jahre vor. Die Kontoauszüge wurden vom Notar gesichtet. Es ergaben sich daraus verschiedene Zahlungen, die auf pflichtteilsergänzungspflichtige Zuwendungen hindeuten könnten. Diese wurden im Nachlassverzeichnis aufgeführt. Es wurde dem anwaltlichen Vertreter des Pflichtteilsberechtigten angeboten, die Kontoauszüge in den Räumen des Notars einzusehen. Der anwaltliche Vertreter des Pflichtteilsberechtigten bittet um Übersendung von Kopien der Kontoauszüge gegen Übernahme der Kopierkosten. Der anwaltliche Vertreter des Erben widerspricht diesem Begehren.

II. Frage
Hat der Pflichtteilsberechtigte Anspruch auf Kopien der Kontoauszüge der letzten zehn Jahre bzw. ist der Notar berechtigt, dem Pflichtteilsberechtigten Kopien der Kontoauszüge der letzten zehn Jahre zu übersenden?

III. Zur Rechtslage
1. Umfang der Auskunftspflicht
Das notarielle Nachlassverzeichnis dient der Erfüllung des Auskunftsanspruchs nach § 2314 Abs. 1 S. 1 BGB. Dieser soll den Pflichtteilsberechtigten in die Lage versetzen, über die Geltendmachung seines Pflichtteilsanspruchs dem Grunde und der Höhe nach zu entscheiden. Daher sind im Nachlassverzeichnis alle Positionen aufzuführen, die bei der Berechnung des Pflichtteils von Bedeutung sein können. Neben den Aktiva und Passiva des Nachlasses hat das Nachlassverzeichnis – falls vom Pflichtteilsberechtigten gefordert – auch die fiktiven Nachlassaktiva zu enthalten, einschließlich ergänzungspflichtiger Zuwendungen und Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Tod des Erblassers. Ggf. muss im Hinblick auf § 2325 Abs. 3 S. 3 BGB auf Verlangen überdies Auskunft gegeben werden über sämtliche Ehegattenschenkungen und unbenannte Zuwendungen, die wie Schenkungen behandelt werden, auch über den Zeitraum von zehn Jahren hinaus (vgl. Kuhn/Trappe, ZEV 2011, 347, 349 f.). Letztlich sind daher im Nachlassverzeichnis alle tatsächlichen und fiktiven Nachlassgegenstände, die sich auf etwaige Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche auswirken können, einzeln und übersichtlich aufzuführen (G. Müller, in: Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2017, § 10 Rn. 172; vgl. auch Lange, ZEV 2020, 253, 256).

Da sich das Nachlassverzeichnis hinsichtlich fiktiver Nachlassgegenstände nur äußern muss, soweit dies vom Auskunftsberechtigten geltend gemacht wird, ist der Inhalt des Nachlassverzeichnisses mit dem geltend gemachten Auskunftsanspruch in Einklang zu bringen. Dies bedeutet, dass sich das Nachlassverzeichnis nicht zu solchen Nachlassgegenständen äußern muss, hinsichtlich derer der Auskunftsberechtigte keinen Auskunftsanspruch geltend gemacht hat bzw. seinen geltend gemachten Auskunftsanspruch eingeschränkt hat. Wird aber Auskunft hinsichtlich aller pflichtteilsergänzungsrelevanter Zuwendungen verlangt, so muss sich das Nachlassverzeichnis u. E. nicht nur auf die ergänzungspflichtigen Schenkungen innerhalb der zehn Jahre vor Eintritt des Erbfalls erstrecken, sondern auch ehebedingte Zuwendungen erfassen, selbst wenn diese länger als zehn Jahre vor Eintritt des Erbfalls erfolgt sind. Wird Auskunft dagegen nur hinsichtlich der ergänzungsrelevanten Zuwendungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor Eintritt des Erbfalls verlangt, so können sich u. E. die Ermittlungen des Notars, wie auch der Inhalt des Nachlassverzeichnisses, auf den10-Jahreszeitraum beschränken.

2. Ermittlungen hinsichtlich des fiktiven Nachlasses; Durchsicht der Kontoauszüge
Im Hinblick auf den sog. fiktiven Nachlass ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass nicht Voraussetzung für den Auskunftsanspruch ist, dass das Vorliegen einer ergänzungs- oder ausgleichungspflichtigen Schenkung feststeht. Zur Vermeidung einer unzulässigen Ausforschung ist aber erforderlich, dass Umstände vorliegen, die die Annahme nahelegen, es handle sich in Wirklichkeit – wenigstens zum Teil – um eine Schenkung (BGH NJW 1984, 487, 488 m. w. N.). Die Schenkung muss nicht zweifelsfrei erwiesen sein; vielmehr genügt es, wenn greifbare Anhaltspunkte hierfür vorliegen (vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 1994, 11269; vgl. auch Lange, ZEV 2020, 253, 258 m. w. N.). Bei Verdacht von verschleierten Schenkungen oder bei solchen Zuwendungen, deren Einordnung zweifelhaft ist, muss der Auskunftsverpflichtete über alle Vertragsbedingungen Auskunft leisten, deren Kenntnis für die Beurteilung des Bestehens eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs bedeutsam ist (BGH NJW 1962, 245, 246; 1984, 987, 488).

Wenn die neuere Rechtsprechung, wie bspw. das OLG Stuttgart (RNotZ 2016, 470) oder das OLG Koblenz (NJW 2014, 1972, 1973), eine umfassende Einsichtnahme in die Kontenunterlagen der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall fordert, so widerspricht dies eigentlich der bisherigen h. L., wonach die Ermittlungspflichten des Notars und die damit einhergehende Dokumentation bei der Erstellung des Nachlassverzeichnisses über die des Erben nicht hinausgehen, da dieser Maßnahme „Ausforschungscharakter“ zukommt (vgl. dazu Zimmer, NJW 2015, 1 ff.).

Es dürfte daher übertrieben sein, in jedem Fall (unabhängig davon, welche und wie viele Konten des Erblassers vorhanden waren und wie sich die finanziellen Verhältnisse des Erblassers darstellten) eine Durchsicht aller Kontoauszüge der letzten zehn Jahre durch den Notar zu verlangen (vgl. dazu auch Hennig in seiner Anmerkung zur Entscheidung des OLG Stuttgart RNotZ 2016, 470; krit. auch Weidlich, ZEV 2017, 241, 245). Auf keinen Fall ist es aber Aufgabe des Notars, alle Vermögensabflüsse der letzten zehn Jahre lückenlos aufzudecken und zu dokumentieren. Nach unserer Einschätzung sind tiefergehende Nachforschungen bzw. ist die Aufnahme von Vermögensabflüssen in das Nachlassverzeichnis nicht geboten, wenn unentgeltliche Zuwendungen lediglich pauschal und ohne objektiv belegbare Hinweise behauptet werden.

Dieser einschränkende Standpunkt hat auch in der neueren Rechtsprechung wieder mehr Gewicht bekommen. So urteilt etwa das OLG Jena (BeckRS 2016, 134872 = NotBZ 2016, 186) knapp, es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grunde im zu entscheidenden Fall Bankunterlagen für einen 10-Jahreszeitraum einzusehen sein sollten. Für etwaige Ansprüche des Pflichtteilsberechtigten, die sich aus den Kontobewegungen der letzten zehn Jahre ergeben könnten, sei weder etwas ersichtlich noch vorgetragen (Besprechung der Entscheidung durch Peters, NotBZ 2016, 186 ff.).

Weiter hat das OLG Düsseldorf (ZEV 2019, 90 ff. m. Anm. Lange, 92) in einer aktuellen Entscheidung geurteilt, der Erbe sei nicht verpflichtet, gem. § 2314 BGB über alle lebzeitigen Vermögensdispositionen des Erblassers zu informieren. Es bestehe auch kein Ermittlungsrecht des Pflichtteilsberechtigten, alle Kontoauszüge des Erblassers systematisch nach etwaigen Ansprüchen zu durchsuchen. Eine derartige Verpflichtung wäre eine Rechenschaftslegung nach § 259 BGB, die wegen des Verweises auf § 260 BGB in § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB gerade nicht geschuldet sei. Der auskunftspflichtige Erbe müsse im Rahmen des § 2314 BGB dem Pflichtteilsberechtigten „bei Vorliegen gewisser Anhaltspunkte für eine unentgeltliche Zuwendung“ die näheren Umstände der Zuwendung offen legen, damit dieser prüfen kann, ob es sich dabei um eine Schenkung im Rechtssinne handle. Darum sei es der Klägerin hier aber nicht gegangen.

Lange (ZEV 2019, 92) hebt in seiner Entscheidungsanmerkung konkretisierend nochmals ausdrücklich hervor, dass dem Notar ein Ermessensspielraum bei seinen Ermittlungen zustehe, weshalb eine allgemeine Pflicht, stets sämtliche Bankunterlagen der letzten zehn Jahre durchzusehen, schwerlich existieren könne (ähnlich ders. in: MünchKommBGB/Lange, 8. Aufl. 2020, § 2314 Rn. 39 sowie ZEV 2020, 253, 258). Im ersten Schritt werden im Anschluss an die genannten Judikate also zunächst konkrete Umstände durch den Pflichtteilsberechtigten vorgetragen werden müssen, aufgrund deren sich bestimmte ergänzungspflichtige Zuwendungen ergeben könnten.

Wenn man den Notar im Einzelfall als verpflichtet ansieht, die Kontoauszüge der letzten zehn Jahre durchzusehen, dann wird man u. E. allenfalls erwarten können, dass er bei „verdächtigen“ Bewegungen wie bspw. Überweisungen, bei denen der Verwendungszweck auf eine Schenkung hindeutet, durch Befragen des Erben bzw. des Empfängers oder Durchsicht der sonstigen Unterlagen der Frage nach dem Vorliegen einer Schenkung näher nachgeht. Gleiches könnte evtl. hinsichtlich Barabhebungen gelten, die über den Rahmen des Üblichen (weit) hinaus gehen (vgl. zu den Ermittlungspflichten des Notars hinsichtlich eines vom Erblasser erzielten Verkaufserlöses LG Berlin BeckRS 2018, 36937).

In das Nachlassverzeichnis aufzunehmen wäre eine solche „verdächtige“ Überweisung (bzw. sonstige Transaktion) u. E. auch nur dann, wenn sich bei der näheren Nachforschung tatsächlich Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Schenkung ergeben. Abschließend klären wird der Notar das Vorliegen einer Schenkung als Rechtsfrage ohnehin häufig nicht können; insoweit sollte die Position im Zweifel ins Nachlassverzeichnis aufgenommen und klargestellt werden, dass insoweit eine Schenkung vorliegen könnte. Aus unserer Sicht sollte daher mit solchen Positionen verfahren werden wie mit zwischen den Beteiligten strittigen Positionen, die ebenfalls im Zweifel aufzunehmen (und als strittig auszuzeichnen) wären.

3. Pflicht zur Vorlage der Belege?
Sehr umstritten ist, ob der Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten darüber hinaus die Vorlage von Belegen (wie etwa Kontoauszügen) umfasst. Dies wird überwiegend abgelehnt, da dies mit der Natur des Anspruchs (vgl. § 260 Abs. 1 BGB) nicht vereinbar sei. Es gehe nicht darum, Rechenschaft i. S. v. § 259 BGB abzulegen, sondern die Geltendmachung eines Zahlungsanspruchs vorzubereiten (vgl. dazu bereits die o. a. Entscheidung des OLG Düsseldorf, ZEV 2019, 90 ff.). Ausnahmen sollen daher nur dort gelten, wo die Vorlage von Unterlagen erforderlich ist, damit der Pflichtteilsberechtigte seinen Anspruch berechnen kann. Der Wahrheitsgehalt der Auskunft wird demgegenüber nicht über die Vorlage von Belegen, sondern ggf. über die eidesstattliche Versicherung gewährleistet (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, Std.: 1.8.2020, § 2314 Rn. 19 m. w. N.).

Kann der Erbe selbst damit im Regelfall im Rahmen der Auskunftserteilung nicht zur Vorlage der Kontoauszüge verpflichtet werden, so dürfte eine entsprechende Verpflichtung des Notars wohl erst Recht nicht anzunehmen sein. Vielmehr dürfte es hier bei der Geheimhaltungsverpflichtung des § 18 BNotO verbleiben, sodass eine Einsichtnahme des Pflichtteilsberechtigten (bzw. seines Rechtsvertreters) in die Auszüge u. E. nur mit Einverständnis des Erben erfolgen darf. Dies gilt erst recht dann, wenn es sich beispielsweise – wie häufig – um Gemeinschaftskonten handelt, da hierin auch Kontobewegungen verzeichnet sind, die nicht den Erblasser, sondern den Mitinhaber des Kontos, betreffen.

Eine Befugnis des Pflichtteilsberechtigten, im Falle der amtlichen Aufnahme des Nachlassverzeichnisses dem Notar bei der Überprüfung der Angaben und Erstellung des Verzeichnisses „über die Schulter zu schauen“ und damit – indirekt – eine Einsicht in die Belege (wie z. B. Kontoauszüge) zu erhalten, lässt sich nach ganz h. A. auch nicht aus dem Hinzuziehungsrecht des Pflichtteilsberechtigten (vgl. § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB), das relativ schwach ausgestaltet ist, herleiten (vgl. BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2314 Rn. 20; Kind, ZErb 2018, 139, 141; ausf. dazu Heinze, DNotZ 2019, 413 ff.; a. A. Horn, NJW 2016, 2150, 2151).

Gutachten/Abruf-Nr:

176139

Erscheinungsdatum:

30.10.2020

Rechtsbezug

National

Rechtsgebiete:

Pflichtteil

Erschienen in:

DNotI-Report 2020, 161-163

Normen in Titel:

BGB § 2314