VG Stuttgart 28. April 2020
2 K 1289/19
BauGB §§ 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 u. 6, 28 Abs. 2 S. 1; BauNVO § 4a

Maßgeblicher Zeitpunkt für Ausübung des Vorkaufsrechts der Gemeinde

letzte Aktualisierung: 23.07.2020
VG Stuttgart, Urt. v. 28.4.2020 – 2 K 1289/19

BauGB §§ 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 u. 6, 28 Abs. 2 S. 1; BauNVO § 4a
Maßgeblicher Zeitpunkt für Ausübung des Vorkaufsrechts der Gemeinde

1. Aus dem maßgeblichen materiellen Recht ergibt sich, dass maßgeblicher Zeitpunkt zur
Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung eines Vorkaufsrechts nicht jener des
Widerspruchsbescheids, sondern jener der Ausübungsverfügung ist.
2. Mit illegalen Anlagen bebaute Grundstücke sind unbebaut im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5
u. 6 BauGB.
3. Es gibt keine faktischen besonderen Wohngebiete.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter anstelle der Kammer entscheiden kann (§ 87a Abs. 2 u. 3 VwGO), ist zulässig.
Insbesondere ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, da die Beklagte das Vorkaufsrecht ausgeübt hat, ohne den Verkaufspreis
herabzusetzen (vgl. die Zuweisung von Streitigkeiten an die ordentliche Gerichtsbarkeit in § 217 Abs. 1 Satz 1 BauGB, welcher
die Ausübung eines nicht preislimitierenden Vorkaufsrechts nach § 28 Abs. 2 BauGB nicht aufzählt). Weiter ist die Klägerin
klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO), zumal die Beklagte die Ausübungsverfügung sogar ausdrücklich auch an sie adressiert hat.

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Verfügung der Beklagten vom 10.03.2017 ist in der Gestalt, die sie durch den
teilweise abhelfenden Widerspruchsbescheid des Landratsamts L. vom 09.02.2019 gefunden hat, rechtswidrig, verletzt die
Klägerin in ihren Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar besteht eine wirksame
Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer solche Ausübungsverfügung, § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB. Danach kann ein
bestehendes Vorkaufsrecht durch Verwaltungsakt gegenüber dem Verkäufer ausgeübt werden. Auch erfolgte die Ausübung des
Vorkaufsrechts formell ordnungsgemäß (dazu A.), doch bestand an keinem der von der Verfügung umfassten Grundstücke und
Miteigentumsanteilen an Grundstücken ein Vorkaufsrecht (dazu B.).

A.

Die Ausübung des Vorkaufsrechts durch die Beklagte lässt formelle Mängel nicht erkennen.

I.
Das zuständige Organ hat die Entscheidung zur Ausübung in korrekter Weise getroffen.

Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 BauGB steht das Vorkaufsrecht der Beklagten als Gemeinde zu. Da die Entscheidung über seine
Ausübung somit eine Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung betrifft, ist eine Beschlussfassung des hierfür zuständigen
Gemeindeorgans erforderlich. Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 GemO legt der Gemeinderat die Grundsätze für die Verwaltung der
Gemeinde fest und entscheidet über alle Angelegenheiten der Gemeinde, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetzes
zuständig ist oder ihm der Gemeinderat bestimmte Angelegenheiten überträgt. Hier ist weder die Zuständigkeit des
Bürgermeisters nach § 44 GemO eröffnet, noch hat eine Zuständigkeitsübertragung an den Bürgermeister der Beklagten
stattgefunden.

Dem hat die Beklagte auch Rechnung getragen und ihren Gemeinderat in öffentlicher Sitzung am 27.02.2017 über die Ausübung
des Vorkaufsrechts entscheiden lassen. Da diese Beschlussfassung nach Diskussion - gerade auch der zwischenzeitlich
eingegangenen Einwendungen der Klägerin - erfolgte, ist es unerheblich, dass eine Erstbefassung mit dem Vorkaufsrecht in
nichtöffentlicher Sitzung am 30.01.2017 erfolgt war, zumal damals die Einwendungen der Klägerin noch nicht diskutiert werden
konnten (vgl. zu den Anforderungen an die Öffentlichkeit der Sitzung VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.06.2015 - 8 S 1386/14 - juris).

II.
Die Klägerin als Käuferin und die Grundstücksverkäufer sind vor Erlass des Ausübungsbescheids angehört worden (§ 28
LVwVfG).

III.
Die Beklagte hat die Frist zur Ausübung des Vorkaufsrechts gewahrt.

Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB kann das Vorkaufsrecht nur binnen zwei Monaten nach Mitteilung des Kaufvertrags an die
Gemeinde von dieser gegenüber den Verkäufern durch Verwaltungsakt ausgeübt werden. Diese Frist hat die Beklagte gewahrt,
da ihr der Kaufvertrag am 18.01.2017 mitgeteilt worden ist und sie ihr Recht gegenüber den Verkäufern am 13.03.2017 ausgeübt
hat.

IV.
Schließlich hat die Beklagte den Verwendungszweck der Grundstücke hinreichend bezeichnet.

Nach § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB hat die Beklagte bei der Ausübung des Vorkaufsrechts - also in der Ausübungsverfügung - den
Verwendungszweck der Grundstücke anzugeben. Diese spezielle Regelung ergänzt das allgemeine Begründungserfordernis für
einen in Rechte Betroffener eingreifenden Verwaltungsakt. Welche Anforderungen an die Angabe des Verwendungszecks zu
stellen sind, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls (vgl. VG München, Urt. v. 29.11.2017 - M 9 K 16.4828 -
juris; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2019, § 24 Rn. 81). Der erforderliche
Konkretisierungsgrad differiert dabei für die unterschiedlichen Arten der Vorkaufsrechte in § 24 Abs. 1 Satz 1 BauGB (so Stock,
a.a.O., Rn. 80). Gerade bei einem Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BauGB reicht ein pauschaler Verweis auf den
Nutzungszweck („Wohnnutzung“) aus, da das Verfahren der dafür erforderlichen Bebauungsplanaufstellung erst anläuft (vgl.
nochmals Stock, a.a.O.). Dieser Anforderung hat die Beklagte genügt, da sie in der Ausübungsverfügung die geplante
Wohnbebauung und eine beabsichtigte Anschlussunterbringung für Flüchtlinge erwähnt hat.

B.
Die Ausübungsverfügung leidet jedoch an einem materiellen Mangel, da sie nur Grundstücke und Miteigentumsanteile umfasst,
an denen zum maßgeblichen Zeitpunkt kein Vorkaufsrecht entstanden war.

I.
Zwar hat die Beklagte nur vorkaufsrechtsfähige Gegenstände in ihre Verfügung einbezogen.

§ 24 Abs. 1 Satz 1 BauGB begründet ein Vorkaufsrecht der Beklagten nur „beim Kauf von Grundstücken“. § 24 Abs. 2 BauGB
ergänzt, es könne nicht an Wohnungseigentum oder Erbbaurechten begründet werden. Die Klägerin hat fünf vollständige
Grundstücke gekauft sowie Miteigentumsanteile an zwei weiteren (Flst.-Nrn. 4178 und 4179). Solche Miteigentumsanteile können
Gegenstand eines Vorkaufsrechts sein (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.09.2019 - 5 S 1733/17 - juris Rn. 83; VG München Urt. v.
02.02.2010 - M 1 K 09.4969 - juris Rn. 23 f; Köster, in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 24 Rn. 38). Es bleibt insoweit bei dem
in § 200 Abs. 1 BauGB normierten Grundsatz, dass die für Grundstücke geltenden Vorschriften des Baugesetzbuchs - wozu auch
die Vorkaufsrechte gehören - auch auf Grundstücksteile anzuwenden sind, zu denen auch ideelle Miteigentumsanteile gehören.

II.
An allen in der Verfügung bezeichneten Grundstücken und Miteigentumsanteilen bestand jedoch zum maßgeblichen Zeitpunkt
kein gesetzliches Vorkaufsrecht.

Der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts richtet sich nach dem materiellen Recht
(vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 13.12.2007 - 4 C 9.07 - BVerwGE 130, 113; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.03.2007 - 10 S 2221/05
-NVwZ-RR 2008, 165). Im hier einschlägigen materiellen Recht besteht die Besonderheit, dass die Ausübung des Vorkaufsrechts
nach § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB fristgebunden ist. Eine identische Frist gilt im Regelfall auch für die Ausübung der
Abwendungsbefugnis des Käufers (§ 27 Abs. 1 Satz 1 BauGB mit der Verlängerungsmöglichkeit nach Satz 3). Es handelt sich um
materielle Ausschlussfristen, deren Nichteinhaltung den Verlust einer materiell-rechtlichen Rechtsposition zur Folge hat. Nach
Ablauf der Frist kann der Anspruch bzw. die Abwendungsbefugnis nicht mehr geltend gemacht werden. Deswegen müssen
sämtliche für die Ausübung des Vorkaufsrechts erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen bis zur Ausübungsverfügung und
nicht erst bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids gegeben sein (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.06.2015 - 8 S 1386/14 - juris
Rn. 38; Kronisch, in: Brügelmann, BauGB, Stand Okt. 2019, § 24 Rn. 102; a. A. OVG Schleswig, Beschl. v. 29.01.2009 - 1 LA
117/08 - juris: Es sei auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids abzustellen). Zum somit maßgeblichen Zeitpunkt bestand
aber an allen in der Verfügung bezeichneten Grundstücken und Miteigentumsanteilen kein Vorkaufsrecht.

1. Das gilt zunächst für das Grundstück Flst.-Nr. 4176/1, das nördlichste des vom Kaufvertrag umfassten Areals.

a) Entgegen der Ansicht der Beklagten bestand an diesem Grundstück kein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BauGB.

Nach dieser Bestimmung steht der Beklagten ein Vorkaufsrecht beim Kauf von Grundstücken in Gebieten zu, die nach §§ 30, 33
oder 34 Abs. 2 BauGB vorwiegend mit Wohngebäuden bebaut werden können, soweit die Grundstücke unbebaut sind. Damit
scheiden Grundstücke, die bereits bebaut sind oder dem Außenbereich (§ 35 BauGB) zuzuordnen sind, aus.

aa) Zwar findet sich auf dem Grundstück Flst.-Nr. 4176/1 ein offenes Regallager, das genehmigungspflichtig wäre, aber nach den
übereinstimmenden Angaben der Beteiligten und der Verkäufer nie genehmigt worden ist. Nur genehmigte bauliche Anlagen
führen aber zum Verlust der Eigenschaft eines Grundstücks als „unbebaut“ im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 5 u. 6 BauGB.
Sonst hätte es jeder Grundstückseigentümer in der Hand, nach Anhörung zur Ausübung des Vorkaufsrechts durch rasches
Aufstellen einer ungenehmigten Anlage das Recht zum Scheitern zu bringen (angedeutet in BVerwG, Urt. v. 24.10.1996 - 4 C
1.96 - juris; Stock, a.a.O., § 24 Rn. 36; a. A. Kronisch, a.a.O., § 24 Rn. 121).

bb) Das Grundstück Flst.-Nr. 4176/1 nimmt aber nach Ansicht der vorhandenen Luftbilder und den Wahrnehmungen bei
Einnahme des Augenscheins nicht mehr am bestehenden Bebauungszusammenhang nördlich der A.-Straße teil. Es liegt jenseits
einer gedachten Linie hinter den letzten Baukörpern, die dem Aufenthalt von Menschen zu dienen bestimmt sind, gebildet durch
die Gebäude K.-Straße 26 und A.-Straße 13/1. An der somit bestehenden Außenbereichsqualität des Grundstücks ändert das auf
ihm befindliche ungenehmigte Regallager, das nicht dem Aufenthalt von Menschen zu dienen bestimmt ist, nichts (vgl. dazu, dass
eine solche Anlage nicht maßstabsbildend sein und keinen Bebauungszusammenhang vermitteln kann, BVerwG, Beschl. v.
14.09.1992 - 4 C 15.90 - NVwZ 1993, 985; Rieger, in Schrödter, a.a.O., § 34 Rn. 11 u. 13).

b) Auch die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BauGB für ein zum maßgeblichen Zeitpunkt bestehendes
Vorkaufsrecht an diesem Grundstück scheiden aus.

Nach dieser Bestimmung steht der Beklagten ein Vorkaufsrecht im Geltungsbereich eines Flächennutzungsplans zu, soweit es
sich um unbebaute Flächen im Außenbereich handelt, für die nach dem Flächennutzungsplan eine Nutzung als Wohnbaufläche
oder Wohngebiet dargestellt ist. Das ist nach dem geltenden Flächennutzungsplan des Gemeindeverwaltungsverbands G. vom
22.07.2009 gerade nicht der Fall. Denn er stellt auf der Fläche des Grundstücks 4176/1 „Flächen für Landwirtschaft“ dar. Dass
hier dennoch planerisch vermutlich ein Wohngebiet aus dem Flächennutzungsplan im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB wegen
der Randlage des Grundstücks noch entwickelt werden könnte, ändert am Nichtbestehen eines Vorkaufsrechts nichts. Nach § 24
Abs. 1 Satz 3 BauGB würde erst ein Beschluss zur Aufstellung einer Änderung des Flächennutzungsplans ausreichen, um ein
Vorkaufsrecht nach der genannten Bestimmung begründen zu können.

c) Aufgrund des dargelegten maßgeblichen Zeitpunkts ist es dem Gericht verwehrt zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des
Widerspruchsbescheids oder gar zum heutigen Zeitpunkt ein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 BauGB
bestand oder besteht.

Nach dieser Bestimmung steht der Beklagten ein Vorkaufsrecht beim Kauf von Grundstücken im Geltungsbereich eines
Bebauungsplans zu, soweit es sich um Flächen handelt, für die nach dem Bebauungsplan eine Nutzung für öffentliche Zwecke
oder für Flächen oder Maßnahmen zum Ausgleich im Sinne des § 1a Absatz 3 festgesetzt ist. Satz 2 ergänzt, dass dies bereits
nach Beginn der öffentlichen Auslegung gilt.

2. Auch an den übrigen in der Verfügung bezeichneten Grundstücken und Miteigentumsanteilen (Flst.-Nrn. 4179, 4180, 4180/1 -
4180/3) war zum damaligen Zeitpunkt kein Vorkaufsrecht entstanden.

Zwar waren (und sind) sie unbebaut; sie konnten aber zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht „nach § 30, 33 oder 34 Abs. 2
überwiegend mit Wohnbebauung bebaut werden“. Das hätte vorausgesetzt, dass für sie entweder ein Bebauungsplan (§ 30
BauGB) gegolten hätte, in welchem die Flächen als Kleinsiedlungsgebiet (§ 2 BauNVO), reines Wohngebiet (§ 3 BauNVO),
allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) oder besonderes Wohngebiet (§ 4a BauNVO) festgesetzt gewesen wären. Denn nur
diese Gebiete dienen nach den Bestimmungen der Baunutzungsverordnung vorwiegend dem Wohnen (Hess. VGH, Beschl. v.
17.02.2011 - 4 A 2397/10.Z - NVwZ-RR 2011, 492; Köster, in: Schrödter, a.a.O., § 24 Rn. 33; Kronisch, in Brügelmann, a.a.O., §
24 Rn.134). Mischgebiete (§ 6 BauNVO) dienen dagegen dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das
Wohnen nicht wesentlich stören (§ 6 Abs. 1 BauNVO), können also auch überwiegend der Aufnahme nicht störenden Gewerbes
dienen. § 6 BauNVO enthält keine Festlegung einer bestimmten Relation oder eines Vorrangs der einen gegenüber der anderen
Nutzung (so auch Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 6 Rn. 10b). Ebenso ist in Dorfgebieten (§ 5
BauNVO) rechtlich ein Überwiegen der landwirtschaftlichen Nutzung zulässig.
50 Ausgereicht hätte aber auch, wenn ein Aufstellungsbeschluss für die Überplanung des Areals mit den genannten Gebieten
existiert hätte (§ 33 BauGB) oder die Eigenart der Umgebung der Grundstücke nach den Grundsätzen des § 34 Abs. 2 BauGB
bestimmten Baugebieten entsprochen hätte. Alles das war nicht der Fall.

a) Zunächst lässt sich nicht feststellen, dass die genannten Grundstücke „nach § 30 BauGB überwiegend mit Wohnbebauung
bebaut“ werden konnten.

Zwar gilt für sie - der noch auf das Aufbaugesetz für Württemberg-Baden vom 18.08.1948 (RegBl. S. 127 - AufbG -) gestützte -
Bebauungsplan H. der Beklagten vom 19.07.1961. Nach dessen Textteil regelt § 1 Abs. 1 der „Bauvorschriften“ seiner Überschrift
nach nur „Ort und Stellung der Gebäude“, gerade nicht die Art der baulichen Nutzung. Diese wird zwar im nachfolgenden Text
zwar aufzählend erwähnt, dabei aber auch die ausnahmsweise Zulassung von landwirtschaftlichen Gebäuden genannt, was in
den Gebieten nach §§ 3 ff. BauNVO nicht möglich wäre. Daher bedarf es keiner Klärung, ob es sich um die Bestimmung eines
Bebauungsplans handelt, der trotz Inkrafttreten der Erstfassung des Bundesbaugesetzes zum 30.06.1961 nach den vormaligen
Vorschriften fortzuführen war (§ 174 Abs. 1 BBauG 1960) und nicht übergeleitet werden konnte und musste.

bb) Sollte der Bebauungsplan, wofür Vieles spricht, die Art der baulichen Nutzung nicht festsetzen, gilt insoweit § 34 BauGB.

Nach dieser Bestimmung ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und
der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert
ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete nach §§ 2 ff. BauNVO,
beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet
allgemein zulässig wäre (§ 34 Abs. 2 Halbs. 1 BauGB). Der die nähere Umgebung bildende Bereich reicht so weit, wie sich die
Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen
Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, Urt. v. 08.12.2016 - 4 C 7.15 - BauR 2017, 709 juris Rn. 9;
VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.03.2017 - 5 S 1389/16 - juris).

Die um Auskunft gebetene Baurechtsbehörde des Landratsamts L. hatte im Februar 2018, also kurz nach dem maßgeblichen
Zeitpunkt, ausgeführt, die Art der baulichen Nutzung in der Umgebung des Areals entspreche jener eines Mischgebiets. Der vom
Gericht eingenommene Augenschein spricht auch dafür, von einem faktischen Mischgebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6
BauNVO) oder - was hinsichtlich des Bestehens eines Vorkaufsrechts nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BauGB zu keinem anderen
Ergebnis führt - einem faktischen Dorfgebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 BauNVO) auszugehen.

Dabei kann die exakte Ausdehnung der näheren Umgebung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung hier offen bleiben, weil
schon die unmittelbar an das zu prüfende Areal angrenzenden Grundstücke, zu denen hin sich keine Zäsuren feststellen lassen,
gegen das Vorliegen eines faktischen Gebietes nach §§ 2 bis 4 BauNVO sprechen. Zwar befinden sich am östlichen und
südlichen Rand des Areals ausschließlich Wohngebäude. Seine Westseite wird allerdings begrenzt durch das Grundstück Flst.-
Nr. 4175, auf dem sich eine im Jahr 2005 genehmigte und noch heute neuwertig wirkende landwirtschaftliche Maschinenhalle
befindet, von der die Beklagte allerdings behauptet, sie werde derzeit nicht genutzt. Die Nordseite des Areals wird von zwei
Grundstücken begrenzt, die beide mit Lagergebäuden bebaut sind: Zum einen das Grundstück Flst.-Nr. 4176 mit einem im Jahr
1964 genehmigten „Lagerschuppen“, heute als Lager des Bauhofs der Beklagten genutzt. Zum anderen das Grundstück Flst.-Nr.
4178, bebaut mit für schwere LKW auf zwei Ebenen anfahrbaren Lagerhalle. Deren vormalige gewerbliche Nutzung durch ein
Mitglied der Verkäuferfamilie R. ist zwar im Jahr 2013 aufgegeben worden. Es ist aber an einen Handwerker vermietet, der
allerdings derzeit eher private Gegenstände einlagert, ohne Genehmigung einer Nutzungsänderung aber auch wieder
gewerbliche Gegenstände einlagern dürfte.

Das Vorhandensein eines landwirtschaftlichen - neuwertig wirkenden - Betriebsgebäudes, dessen Nutzungsaufgabe noch nicht
allzu lange zurückliegt, bei gleichzeitigem Vorhandensein von zwei Lagerhäusern, zumal einem, das seiner Ausstattung nach mit
schweren LKWs angefahren werden kann, lässt es als ausgeschlossen erscheinen, zum maßgeblichen Zeitpunkt vom
Vorhandenseins eines Kleinsiedlungsgebiets, reinen oder allgemeinen Wohngebiets auszugehen (vgl. zur Unvereinbarkeit von
Lagerhäusern mit einer Einordnung der Umgebung als WA VG Gelsenkirchen, GB v. 20.09.2012 - 6 K 1520/10 - juris).

Soweit der Beklagtenvertreter inzwischen behauptet, die Art der baulichen Nutzung auf den genannten Grundstücken entspreche
§ 4a BauNVO, also der eines besonderen Wohngebiets, übersieht er, dass in zusammenhängend bebauten Ortsteilen diese
Bestimmung kein Maßstab für die zulässige Art der baulichen Nutzung sein kann. Mit anderen Worten: Es gibt keine faktischen
besonderen Wohngebiete (so auch BVerwG, Beschl. v. 11.12.1992 - 4 B 209.92 - NVwZ 1993, 1100; VGH Bad.-Württ., Beschl. v.
04.01.2007 - 8 S 1802/06 - VBlBW 2007, 224; Stock, in Ernst/Zinkahn /Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2019, §
4a BauNVO Rn. 4; a.A. offenbar Wirsing/Beathalter, Gemeindliche Vorkaufsrechte nach dem BauGB, VBlBW 2019, 309, 311).
Denn § 4a Abs. 1 Satz 1 BauNVO fordert eine planerische Komponente, eine Absicht, wonach „erhalten und fortentwickelt
werden soll“. Diese ist einer Wahrnehmung durch den Betrachter, auf die es bei der Bestimmung der Eigenart der Umgebung
nach § 34 BauGB ankommt, nicht zugänglich.

C.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Hinzuziehung des Klägervertreters im Vorverfahren war
notwendig (§ 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Umfang und Schwierigkeit der Sache sind nicht so einfach gelagert, dass die Klägerin als
nicht rechtskundige Beteiligte bei vernünftiger Betrachtung hätte annehmen müssen, sie könne Rechte gegenüber der Beklagten
selbst ausreichend wahrnehmen (vgl. zum Maßstab BVerwG, Beschl. v. 21.08.2018 - 2 A 6/15 - juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v.
20.07.2016 - 4 S 1163/14 - juris Rn. 57). Dass ihr Bevollmächtigter bereits im Vorverfahren tätig war, ist hinreichend belegt.

Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4
VwGO), sind nicht erkennbar.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

VG Stuttgart

Erscheinungsdatum:

28.04.2020

Aktenzeichen:

2 K 1289/19

Rechtsgebiete:

Öffentliches Baurecht

Normen in Titel:

BauGB §§ 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 u. 6, 28 Abs. 2 S. 1; BauNVO § 4a