Amtsermittlungspflicht des Betreuungsgerichts; Anforderungen an die Eignung des Vorsorgebevollmächtigten
letzte Aktualisierung: 28.9.2023
BGH, Beschl. v. 2.8.2023 – XII ZB 303/22
BGB §§ 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1, 1821 Abs. 3 Nr. 1 u. Abs. 4 S. 1; FamFG §§ 26, 34 Abs. 3, 278
Amtsermittlungspflicht des Betreuungsgerichts; Anforderungen an die Eignung des
Vorsorgebevollmächtigten
a) Auch wenn das Verfahren nicht mit einer Betreuerbestellung endet, kann die Amtsermittlungspflicht
gemäß
einzuholen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18 –
b) Dass die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt
werden können, setzt auch die Eignung des Bevollmächtigten dafür voraus, eine erhebliche
Gefährdung für die Person des Betroffenen oder dessen Vermögen entgegen dessen geäußerten
Wünschen abzuwenden, wenn der Betroffene die Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder
Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann (Fortführung von
Senatsbeschluss vom 7. August 2013 – XII ZB 671/12 –
Gründe:
I.
Der 40-jährige Betroffene musste sich im Alter von 16 Jahren wegen einer
medikamentös nicht behandelbaren Epilepsie einer Hirnoperation unterziehen.
Ab dem Jahr 2007 folgten wiederholt stationäre Aufenthalte des Betroffenen in
psychiatrischen Kliniken teilweise auf freiwilliger Basis, teilweise auf der Rechts-
grundlage einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Im Rahmen vorangegangener
Begutachtungen hatten Fachärzte unterschiedliche psychiatrische Diagnosen
- u.a. exazerbierte undifferenzierte paranoide Schizophrenie und organische
Schizophrenie sowie organische Wesensveränderung nach Läsionektomie; hirnorganisches
Psychosyndrom; katatone Schizophrenie, organische Persönlichkeitsstörung
und Epilepsie - gestellt, wobei jeweils von einer behandlungsbedürftigen
psychischen Erkrankung mit Eigen- und/oder Fremdgefährdung ausgegangen
wurde. Der Betroffene lebte im Übrigen zeitweise in betreuten Einrichtungen,
bei seinen Eltern oder war obdachlos.
Im August 2016 wurden die Mutter des Betroffenen (Beteiligte zu 1) als
Betreuerin und sein Vater (Beteiligter zu 2) als Ersatzbetreuer mit dem Aufgabenkreis
Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge und Vermögensangelegenheiten
bestellt. Mit weiterem Beschluss wurde der Aufgabenkreis um die Bereiche
Heimplatzangelegenheit und Regelung des Postverkehrs erweitert.
Ab Oktober 2017 wurde der Betroffene mit Einwilligung seiner Mutter und
mit betreuungsgerichtlicher Genehmigung zwangsweise mit dem Medikament
Abilify behandelt. In der Folge verbesserte sich sein Gesundheitszustand, sodass
die Betreuung im Januar 2019 aufgehoben wurde. Noch im selben Monat errichtete
der Betroffene eine notarielle Vorsorgevollmacht, durch die er seinen Bruder
(Beteiligter zu 3) als Bevollmächtigten und ein Mitglied eines Interessenverbands
Psychiatrieerfahrener (Beteiligter zu 4) als Ersatzbevollmächtigten einsetzte. Die
Vollmachturkunde enthält zudem eine Patientenverfügung, welche die Erstellung
jeglicher psychiatrischer Diagnosen sowie sämtliche psychiatrischen Untersuchungen
und Behandlungen ausschließt.
Die Eltern des Betroffenen regten ab Dezember 2019 mehrfach die Wiedereinrichtung
der Betreuung an. Auf ihre erneute Anregung vom 27. September
2021 hat das Amtsgericht zweimal Termin zur persönlichen Anhörung des Betroffenen
in dessen Wohnung bestimmt, ohne dass dieser die Tür geöffnet hat.
Zum zweiten Termin ist der bevollmächtigte Bruder des Betroffenen erschienen.
Daraufhin hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 3. Januar 2022 festgestellt,
dass die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung nicht vorliegen.
Die hiergegen gerichteten Beschwerden der Eltern, mit welchen diese zusätzlich
die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts angeregt haben, hat das Landgericht
zurückgewiesen. Mit ihren Rechtsbeschwerden erstreben sie weiterhin die
Bestellung eines Berufsbetreuers nebst Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts.
II.
Die zulässigen Rechtsbeschwerden haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung
der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an
das Landgericht.
1. Die Rechtsbeschwerden der Eltern sind zulässig. Sie sind gemäß § 70
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft,
obwohl vorliegend die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt worden ist. Als
im ersten Rechtszug beteiligte Angehörige des Betroffenen, deren Beschwerden
zurückgewiesen worden sind, sind die Eltern gemäß §§ 303 Abs. 2 Nr. 1, 59
Abs. 1 FamFG auch beschwerdeberechtigt (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Februar
2019 - XII ZB 485/18 -
2. Die Rechtsbeschwerden sind begründet.
a) Das Landgericht hat - unter weitgehender Bezugnahme auf die Begründung
des Amtsgerichts - ausgeführt, eine Betreuung sei nicht anzuordnen, da
eine Vollmacht vorliege. Der bevollmächtigte Bruder sei - anders als der Ersatzbevollmächtigte
- ausreichend geeignet und auch bereit, die Vollmacht auszuüben.
Ein neutraler Betreuer könne keinerlei Kontakt zum Betroffenen aufbauen,
da dieser keinen Kontakt zulasse, sodass ein solcher nur weniger erreichen
Ebenso sei für den Aufgabenbereich der Vermögenssorge kein Betreuer
zu bestellen. Zwar habe der Betroffene die Bevollmächtigung des Bruders gegenüber
seiner Hausbank widerrufen, doch sei es zu einer Verschuldung nicht
gekommen. Der Bruder des Betroffenen könne gegebenenfalls ein anderes
Konto errichten, auf das etwaige zu erwartende Zahlungen fließen könnten. Es
sei auch kein Einwilligungsvorbehalt anzuordnen, da eine erhebliche Gefahr für
das Vermögen nicht vorliege.
b) Dies hält den Aufklärungsrügen der Rechtsbeschwerden nicht stand.
Das Landgericht hat seiner Pflicht zur Amtsermittlung nach
hinreichend Rechnung getragen.
aa) In welchem Umfang Tatsachen zu ermitteln sind, bestimmt sich nach
Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden
Beweise zu erheben. Dabei muss dem erkennenden Gericht die Entscheidung
darüber vorbehalten sein, welchen Weg es innerhalb der ihm vorgegebenen
Verfahrensordnung für geeignet hält, um zu den für eine Entscheidung
notwendigen Erkenntnissen zu gelangen. Dem Rechtsbeschwerdegericht obliegt
lediglich die Kontrolle auf Rechtsfehler, insbesondere die Prüfung, ob die Tatsachengerichte
alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen haben und
die Würdigung auf einer ausreichenden Sachaufklärung beruht (Senatsbeschluss
vom 14. Juli 2021 - XII ZB 135/21 -
(1) Zu den regelmäßig erforderlichen Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung
gehört die persönliche Anhörung des Betroffenen.
Zwar ordnet
der Bestellung eines Betreuers für den Betroffenen an. Damit ist aber nicht die
Aussage verbunden, dass es einer Anhörung dann, wenn es nicht zu einer Betreuerbestellung
kommt, generell nicht bedarf. Die persönliche Anhörung dient
nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl.
hat - wie sich aus § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG ergibt - vor allem den Zweck,
dem Gericht einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen.
Ihr kommt damit auch in den Fällen, in denen sie nicht durch das Gesetz vorgeschrieben
ist, eine zentrale Stellung im Rahmen der gemäß
Betreuungsverfahren von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen zu. Wird
die Einrichtung einer Betreuung ohne die erforderlichen Ermittlungen abgelehnt,
so wird dem Betroffenen der ihm durch das Betreuungsrecht gewährleistete Erwachsenenschutz
ohne ausreichende Grundlage vorenthalten (vgl. Senatsbeschlüsse
vom 3. November 2021 - XII ZB 215/21 -
und vom 13. Februar 2019 - XII ZB 485/18 -
(2) Weiteres Mittel der Sachverhaltsaufklärung ist die ärztliche Untersuchung
des Betroffenen.
eines Sachverständigengutachtens, wenn das Verfahren mit einer Betreuerbestellung
oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts endet. Wird davon
abgesehen, ist die Einholung eines Gutachtens nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG
nicht zwingend erforderlich. Das Gericht hat daher vor der Anordnung der Gutachtenserstattung
im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob es das Verfahren im Hinblick
auf eine Betreuerbestellung oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts
weiter zu betreiben hat. Dies setzt hinreichende Anhaltspunkte voraus, dass
Betreuungsbedarf besteht oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts in
Betracht kommt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2021 - XII ZB 135/21 -
bb) Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, wird das landgerichtliche
Verfahren den aus diesen Maßstäben erwachsenden Anforderungen an die
Sachverhaltsaufklärung nicht gerecht. Das Landgericht hat auf unzureichender
Tatsachengrundlage angenommen, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte für
einen Betreuungsbedarf nach
§ 1896 Abs. 2 BGB) vorlägen.
(1) Gemäß § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB (bis 31. Dezember 2022: § 1896
Abs. 2 Satz 1 BGB) darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich
ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen
durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können (§ 1814
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB; bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB).
Eine Vorsorgevollmacht steht daher der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich
entgegen. Steht die - hier vom Landgericht nicht in Zweifel gezogene - Wirksamkeit
der Vorsorgevollmacht fest, kann gleichwohl eine Betreuung erforderlich
sein, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen
nach dessen Wünschen zu besorgen, insbesondere, wenn zu befürchten ist,
dass er die Angelegenheiten des Vollmachtgebers nicht entsprechend der Vereinbarung
oder dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers
besorgt. Ergeben sich aus der Vereinbarung und dem erklärten Willen des Vollmachtgebers
keine konkreten Vorgaben, kann der Betroffene seine Wünsche
nicht mehr äußern und ergeben sich auch keine individuellen Anhaltspunkte für
seinen mutmaßlichen Willen, richtet sich dieser nach seinen objektiven Bedürfnissen.
Den daraus abzuleitenden Handlungsmaximen kann der Bevollmächtigte
nicht gerecht werden, wenn er mangels Befähigung oder wegen erheblicher Bedenken
an seiner Redlichkeit als ungeeignet erscheint (Senatsbeschluss vom
29. März 2023 - XII ZB 515/22 -
Auch wenn die Redlichkeit des Bevollmächtigten außer Zweifel steht, setzt
der Vorrang der Vorsorgevollmacht gegenüber der Anordnung einer Betreuung
voraus, dass die Angelegenheiten des Volljährigen durch den Bevollmächtigten
gleichermaßen besorgt werden können (§ 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB). Daran
fehlt es aber, wenn der Bevollmächtige Wünschen des Betroffenen nachgeht,
denen der Betreuer nach
weil hierdurch die Person des Betreuten oder dessen Vermögen erheblich gefährdet
würde und der Betreute diese Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung
nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. In einem
derartigen Fall von selbstschädigenden Wünschen des Betroffenen gebietet es
der Erwachsenenschutz nicht nur, dass ein Betreuer von den geäußerten Wünschen
abweicht (vgl. BT-Drucks. 19/24445 S. 252), sondern er verlangt Gleiches
auch von einem Bevollmächtigten. Denn nur so kann durch diesen einem bestehenden
Betreuungsbedarf Genüge getan werden.
Damit im Einklang steht zum einen die Regelung des § 1820 Abs. 5 Satz 1
BGB, wonach ein Kontrollbetreuer die Vollmacht widerrufen darf, wenn das Festhalten
an dieser eine künftige Verletzung der Person oder des Vermögens des
Betreuten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und in erheblicher Schwere befürchten
lässt. Hierdurch zeigt sich der Wille des Gesetzgebers, den Eintritt einer
solchen Gefahr auch beim Handeln des Bevollmächtigten nicht hinzunehmen.
Dem entspricht zum anderen, dass im Falle der Bestellung eines Kontrollbetreuers
jener an die Maßstäbe des
dementsprechende Weisungen gegenüber dem Bevollmächtigten auszusprechen
hätte, denen der Bevollmächtigte dann Folge zu leisten hätte.
Dass die Angelegenheiten des Betroffenen durch den Bevollmächtigten
gleichermaßen besorgt werden können, setzt daher auch die Eignung des Bevollmächtigten
dafür voraus, eine erhebliche Gefährdung für die Person des Betroffenen
oder dessen Vermögen entgegen dessen geäußerten Wünschen abzuwenden
(vgl. bereits Senatsbeschluss vom 7. August 2013 - XII ZB 671/12 -
Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln
kann. In einem solchen Fall muss der Bevollmächtigte wie ein Betreuer in
der Lage sein, den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu ermitteln und ihm
Geltung zu verschaffen (vgl. § 1821 Abs. 4 Satz 1 BGB).
(2) Den daraus folgenden Anforderungen an die Feststellung der Eignung
des Bevollmächtigten wird das Verfahren nicht gerecht.
(a) Im Aufgabenbereich Gesundheitssorge bestehen, unabhängig von den
nicht festgestellten Wünschen des Betroffenen, hinreichende Anhaltspunkte für
eine Gefährdung höherrangiger Rechtsgüter des Betroffenen. Ebenso bestehen
hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene diese Gefährdung aufgrund
seiner Krankheit nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln
kann. Zwar ist der Bruder des Betroffenen insoweit umfassend bevollmächtigt.
Die Eltern des Betroffenen haben allerdings, nachdem sie kurze Einblicke in dessen
Wohnung hatten, im Verfahren darauf hingewiesen, dass aufgrund einer
Mangelernährung und unhaltbarer hygienischer Zustände in der Wohnung eine
Gesundheitsgefährdung zu befürchten sei.
Nicht durch ausreichende Tatsachengrundlagen unterlegt ist auch die von
den Instanzgerichten verneinte unzureichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme.
Denn eine ärztliche oder gutachterliche Untersuchung des Betroffenen
fand nicht statt und auch einen persönlichen Eindruck vermochten sich weder
das Amts- noch das Landgericht zu verschaffen. Der Bruder des Betroffenen
konnte über den Zustand des Betroffenen ebenfalls keine belastbare Auskunft
geben, da auch ihm oft nur ein Telefonat möglich sei und der Betroffene ihn regelmäßig
nicht in die Wohnung lasse. Ebenso hat die Betreuungsbehörde angegeben,
dass ein persönlicher Kontakt nicht habe hergestellt werden können. Des
Weiteren hat der von der Betreuungsbehörde eingeschaltete Betreuungsverein
mitgeteilt, der Betroffene habe im Gespräch mit einem Mitarbeiter einen verwirrten
und hilfsbedürftigen Eindruck gemacht. Der Bruder des Betroffenen habe gegenüber
dem Mitarbeiter erklärt, dass der Betroffene sich nur unzureichend versorgen
könne und in der Wohnung verwahrlose.
Nach Maßgabe der rechtsbeschwerderechtlich zu unterstellenden Richtigkeit
dieser Angaben rechtfertigt schließlich auch die Angabe des Bruders, es
von Amts- und Landgericht, dass im Aufgabenbereich Gesundheitssorge kein
Betreuungsbedarf bestehe. Denn weder ist festgestellt, was genau der Bruder
schränkten Zugangs zum Betroffenen das Überschreiten solcher Linien und das
Eintreten ernstlicher Gefährdungen verlässlich bemerken könnte.
Mangels tragfähiger Feststellungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen
war das Landgericht nicht in die Lage versetzt, die Eignung des Bruders
als Bevollmächtigter rechtsfehlerfrei zu bewerten. Es war auf dieser Grundlage
bereits nicht möglich festzustellen, ob und inwiefern - auch unter Berücksichtigung
der Patientenverfügung - im Aufgabenbereich Gesundheitssorge Hilfen benötigt
werden und ob Handlungsbedarf besteht.
(b) Entsprechendes gilt für die Aufgabenbereiche Wohnungsangelegenheiten
und Aufenthaltsbestimmung. Insoweit mangelt es ebenfalls an einer ausreichenden
Sachaufklärung, obwohl aus den genannten Gründen hinreichende
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene nicht ohne erhebliche Gefährdung
seiner Gesundheit allein wohnen kann.
(c) Ebenso bestehen im Aufgabenbereich Vermögenssorge, wiederum unabhängig
von den nicht festgestellten Wünschen des Betroffenen, hinreichende
Anhaltspunkte dafür, dass sich die gesamte Lebens- und Versorgungssituation
des Betroffenen erheblich verschlechtern könnte. Auch insoweit ist zwar der Bruder
des Betroffenen umfassend bevollmächtigt worden. Allerdings hat der Betroffene
die Vollmacht des Bruders gegenüber der Hausbank des Betroffenen,
bei der er ein Guthabenkonto führt, widerrufen. Die Hausbank befolgt den Widerruf,
sodass der Bruder keinen Zugriff mehr auf das Konto hat. Zwar kommt es
hierdurch zu keiner Verschuldung des Betroffenen. Dieses für sich genommen
und die Tatsache, dass der Bruder mithilfe seiner Vollmacht bei einer anderen
Bank ein Konto eröffnen könnte, rechtfertigen jedoch nicht die Annahme des
Landgerichts, dass es in diesem Aufgabenbereich keinen Betreuungsbedarf gibt.
Denn zum einen steht zu befürchten, dass der Betroffene auch in anderen Bereichen,
in denen der Bruder tätig wird, die Vollmacht widerruft, soweit er dies als
unerwünschte Einmischung empfindet. Zum anderen kann eine Gefährdung nicht
nur durch Überziehung des Bankkontos eintreten, sondern auch durch die von
Bruder und Eltern mitgeteilten vielfachen Waren- oder Lebensmittelbestellungen
des Betroffenen oder etwa - wie vorliegend bereits eingetreten und durch Bezahlung
seitens der Eltern abgewendet - durch die Nichtbegleichung der Stromrechnungen.
Einen Einblick, ob unbeglichene Verbindlichkeiten bestehen, hat auch
der Bruder des Betroffenen nicht.
Hinzukommt, dass der Bruder des Betroffenen selbst angibt, dass jedenfalls
in diesem Aufgabenbereich eine Betreuung sinnvoll wäre, da dann neben
der Regelung der Bankgeschäfte ggf. auch Wohngeld oder andere Sozialleistungen
für den Betroffenen beantragt werden könnten. Schließlich hat der Betreuungsverein
angegeben, es stehe in Kürze die Auszahlung eines Pflichtteilsanspruches
an, welcher gegebenenfalls verwaltet werden müsse. Unter diesen Umständen
erscheint fraglich, ob die durch den Bruder in Ausübung der Vollmacht
getroffenen Maßnahmen zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für das Vermögen
des Betroffenen ausreichen.
(3) Aufgrund der danach bestehenden hinreichenden Anhaltspunkte für
einen gegebenen Betreuungsbedarf sind weitere Ermittlungen wie insbesondere
eine persönliche Anhörung des Betroffenen erforderlich. Dessen Weigerung, zur
Durchführung des Anhörungstermins seine Wohnung zu öffnen, ist kein hinreichender
Grund, von der persönlichen Anhörung abzusehen. Da der Betroffene
nach dem Bekunden seines Bruders grundsätzliche Scheu hat, andere Personen
in seine Wohnung einzulassen, hätte das Landgericht, um weitere Möglichkeiten
einer Anhörung ohne Zwang auszuschöpfen, eine Anhörung im Gerichtsgebäude
terminieren müssen.
Wäre der Betroffene auch zu dieser nicht erschienen, hätte das Landgericht
eine Vorführung gemäß § 278 Abs. 5 FamFG in Betracht ziehen müssen
(vgl. Senatsbeschluss vom 24. Januar 2018 - XII ZB 292/17 -
Rn. 11 mwN). Liegen hinreichende Anhaltspunkte vor, die für eine Betreuungsbedürftigkeit
des Betroffenen sprechen, kann das Betreuungsgericht nach dieser
Vorschrift eine Vorführung anordnen. Das Landgericht hätte dazu die mögliche
Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ins Verhältnis
zur Bedeutung des Verfahrensgegenstands setzen müssen. Da es um eine Betreuung
geht, die weite Lebensbereiche des Betroffenen abdecken könnte, wäre
die Annahme von Unverhältnismäßigkeit allenfalls dann in Betracht gekommen,
wenn von der Vorführung und Durchsetzung gemäß § 278 Abs. 6 und 7 bzw.
den Betroffenen zu erwarten gewesen wären. Zu denken wäre hierbei insbesondere
an eine sachverständig festgestellte Gefahr, dass es durch die Vorführung
zu erheblichen Nachteilen für die Gesundheit käme (vgl. Senatsbeschluss vom
6. Juli 2022 - XII ZB 551/21 -
aber nicht ersichtlich. Nicht ausreichend ist die in dem amtsgerichtlichen Nichtabhilfebeschluss
getroffene Mutmaßung, wonach der Betroffene im Falle seiner
Vorführung jeglichen Kontakt auch zu seinem Bruder abbräche.
Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln des
§ 278 Abs. 5 bis 7 FamFG stellt einen Verstoß gegen
vom 6. Juli 2022 - XII ZB 551/21 -
c) Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist
gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist gemäß § 74 Abs. 6
Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen. Der Senat kann in der
Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen
nicht selbst treffen kann.
Im Rahmen seiner erneuten Befassung wird das Landgericht auch die Bestellung
eines Kontrollbetreuers in Betracht zu ziehen haben (§§ 1815 Abs. 3,
1820 Abs. 3 Nr. 2 BGB; bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 3 BGB). Denn sind
behebbare Mängel bei der Vollmachtausübung festzustellen, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
grundsätzlich zunächst den Versuch, mittels eines zu
bestellenden Kontrollbetreuers auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken, insbesondere
durch Verlangen nach Auskunft und Rechenschaftslegung (§ 666
BGB) sowie Ausübung bestehender Weisungsrechte (vgl. Senatsbeschluss vom
29. März 2023 - XII ZB 515/22 -
Entscheidung, Urteil
Gericht:BGH
Erscheinungsdatum:02.08.2023
Aktenzeichen:XII ZB 303/22
Rechtsgebiete:
Vormundschaft, Pflegschaft (familien- und vormundschaftsgerichtliche Genehmigung)
Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
NJW-RR 2023, 1297-1300
Normen in Titel:BGB §§ 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1, 1821 Abs. 3 Nr. 1 u. Abs. 4 S. 1; FamFG §§ 26, 34 Abs. 3, 278