BGH 10. Juni 2020
XII ZB 25/20
BGB § 1896 Abs. 1 u. 2

Voraussetzung für die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten

letzte Aktualisierung: 08.10.2020
BGH, Beschl. v. 10.6.2020 – XII ZB 25/20

BGB § 1896 Abs. 1 u. 2
Voraussetzung für die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten

Die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten setzt voraus, dass der Betroffene aufgrund
seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zudem
muss in all diesen Angelegenheiten, die die gegenwärtige Lebenssituation des Betroffenen
bestimmen, ein Handlungsbedarf bestehen. Beides muss durch konkret festgestellte Tatsachen näher
belegt werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 – XII ZB 61/20 – zur
Veröffentlichung bestimmt).

Gründe:

I.
Die Betroffene wendet sich gegen die Anordnung einer Betreuung für alle
Angelegenheiten.
Die 1943 geborene Betroffene leidet nach den tatrichterlichen Feststellungen
an einer wahnhaften psychischen Störung. Dabei halluziniert sie, dass
sich in ihrer Wohnung fremde Menschen aufhalten. Ihre deswegen vorgenommenen
Mietminderungen führten immer wieder zu Mietschulden und Kündigungen
seitens der Vermieter.

Das Amtsgericht hat eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten
incl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post“ eingerichtet
und die weitere Beteiligte zur Betreuerin bestellt. Das Landgericht hat die Beschwerde
der Betroffenen zurückgewiesen; hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.

II.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung
ausgeführt, die Betroffene leide nach dem vom Amtsgericht eingeholten psychiatrischen
Gutachten an einer wahnhaften Störung mit einem weit ausgebauten
Wahngebäude, die vermutlich bereits chronifiziert sei. In ihrer Realität seien
ständig Personen in ihrer Wohnung, wie etwa der frühere Vermieter oder der
Hausmeister, obwohl sie ein zusätzliches Innenschloss angebracht habe. Wenn
sie ihre Wohnung verlassen habe, fehlten ihr Ordner, die dann aber wieder auftauchten.
Durch diese schon seit einigen Jahren andauernden Wahnvorstellungen
habe sie sich wiederholt in Schwierigkeiten gebracht, da sie die Miete gekürzt
habe, bis ihr die Wohnungen gekündigt worden seien. Die Erkrankung
gehöre zu den psychischen Störungen (ICD-10: F 22.0) und führe dazu, dass
die Betroffene nicht in der Lage sei, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu
kümmern. Die Betroffene sei umfassend hilfebedürftig und geschäftsunfähig.
Aus psychiatrischer Sicht lägen die medizinischen Voraussetzungen für die Anordnung
einer Betreuung in allen Angelegenheiten inklusive der Posterledigung
vor. Dies gelte auch gegen den erklärten Willen der Betroffenen, die sich nicht
adäquat einzuschätzen vermöge und völlig in ihrem Wahn gefangen sei.

2. Die angefochtene Entscheidung hält einer rechtlichen Nachprüfung
nicht stand. Wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, tragen die bislang getroffenen
Feststellungen nicht die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten.

a) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde allerdings, die Betreuung sei
auf der Grundlage einer bloßen Verdachtsdiagnose (vgl. dazu etwa Senatsbeschluss
vom 26. Oktober 2016 XII
ZB 622/15 FamRZ
2017, 140 Rn. 7 mwN)
angeordnet worden. Denn das Beschwerdegericht ist zutreffend davon ausgegangen,
dass bei der Betroffenen nach dem Sachverständigengutachten eine
wahnhafte psychische Störung vorliegt. Zwar hat der Sachverständige eingangs
seiner Würdigung formuliert, die Betroffene leide „wohl“ an einer wahnhaften
Störung mit einem weit ausgebauten Wahngebäude, das „vermutlich“ bereits
seit Jahren bestehe, und dass die Erkrankung „vermutlich“ auch chronifiziert
sei. Er ist aber ausdrücklich von einer Erkrankung der Betroffenen ausgegangen
und nicht nur von einem Verdacht auf eine psychische Störung.

b) Die Entscheidung des Landgerichts ist aber deswegen rechtsfehlerhaft,
weil sie zum Umfang des Aufgabenkreises keine hinreichende Begründung
enthält.

aa) Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden,
soweit die Betreuung erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung
eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie
auch
unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit notwendig
ist, weil der Betroffene
auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende
Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung
darf sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben,
seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit).
Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers.
Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht,
ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu
beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden
Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa
Senatsbeschlüsse vom 11. Juli 2018 XII
ZB 399/17 FamRZ
2018, 1601
Rn. 19 mwN und vom 13. Mai 2020 XII
ZB 61/20 zur
Veröffentlichung bestimmt).
Für die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten bedarf es
konkreter Darlegung, dass Handlungsbedarf in allen Angelegenheiten besteht
(vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. Juni 2019 XII
ZB 51/19 FamRZ
2019, 1647
Rn. 16 und vom 13. Mai 2020 XII
ZB 61/20 zur
Veröffentlichung bestimmt).

bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.
Denn die konkreten Feststellungen des Beschwerdegerichts vermögen
zwar die Betreuung in Wohnungsangelegenheiten und der damit zusammenhängenden
Vermögenssorge zu rechtfertigen. Zu den darüber hinaus bestimmten
Aufgabenbereichen fehlen indessen sowohl in der angefochtenen Entscheidung
als auch in dem Beschluss des Amtsgerichts jegliche konkreten Feststellungen
für einen entsprechenden Handlungsbedarf.

c) Der angefochtene Beschluss kann danach keinen Bestand haben. Der
Senat kann nicht abschließend in der Sache entscheiden, da noch Feststellungen
über den Betreuungsbedarf zu treffen sind.

Die Zurückverweisung gibt dem Beschwerdegericht zugleich Gelegenheit,
ergänzende Feststellungen zu treffen, die eine Betreuungsbedürftigkeit in
allen Angelegenheiten begründen können. Denn bislang enthalten weder die
angefochtene Entscheidung noch der Beschluss des Amtsgerichts oder das
Sachverständigengutachten Tatsachenfeststellungen, die eine Betreuungsbedürftigkeit
im Sinne des § 1896 Abs. 1 BGB in allen Angelegenheiten näher belegen.
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil
sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung,
zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

BGH

Erscheinungsdatum:

10.06.2020

Aktenzeichen:

XII ZB 25/20

Rechtsgebiete:

Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)

Erschienen in:

NJW-RR 2020, 1009-1010

Normen in Titel:

BGB § 1896 Abs. 1 u. 2