OVG Saarlouis 08. Juni 2022
1 B 30/22
BauGB §§ 127, 132, 133, 135 Abs. 5

Erschließungskosten; Verzichtserklärung der Gemeinde im Kaufvertrag; Nichtigkeit; Treu und Glauben

letzte Aktualisierung: 7.7.2022
OVG Saarland, Beschl. v. 8.6.2022 – 1 B 30/22

BauGB §§ 127, 132, 133, 135 Abs. 5
Erschließungskosten; Verzichtserklärung der Gemeinde im Kaufvertrag; Nichtigkeit; Treu
und Glauben

1. Von einem Verzicht auf die Erhebung von Beiträgen kann regelmäßig nur dann die Rede sein,
wenn die Verzichtserklärung eindeutig ist. Dabei sind aufgrund der im Grundsatz unabdingbaren
gesetzlichen Verpflichtung der Gemeinden zur Beitragserhebung an die Annahme eines
Verzichtswillens hohe Anforderungen zu stellen.
2. § 135 Abs. 5 Satz 1 und 2 BauGB schließt den Einwand unzulässiger Rechtsausübung auf
Festsetzungsebene als spezialgesetzliche Regelung für die Fallgruppe eines widersprüchlichen
Verhaltens der Gemeinde im Vorfeld einer Erschließungsbeitragserhebung aus. Die Frage des
treuwidrigen Verhaltens der Gemeinde ist in diesen Fällen erst auf der nachgelagerten Ebene des
Beitragserlasses nach Maßgabe des § 135 Abs. 5 BauGB zu prüfen, berührt aber die Rechtmäßigkeit
des Festsetzungsbescheids nicht.
3. Das Berufen einer Gemeinde als Beitragsgläubigerin auf die Nichtigkeit einer
Ablösungsvereinbarung kann sich als treuwidrig darstellen, wenn daraus für den Beitragsschuldner
untragbare, seine Existenz berührende Folgen erwüchsen.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen, eine Eigentümergemeinschaft in Form einer Erbengemeinschaft,
begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen die Erhebung einer Vorausleistung auf einen
Erschließungsbeitrag für ihr an der Erschließungsanlage „W…“ (Erschließungsgebiet
„I…“) gelegenes Grundstück mit der Parzellennummer …(Flur .. der Gemarkung R…).

Die Rechtsvorgänger der Antragstellerinnen erwarben das Grundstück mit notariellem
Tauschvertrag vom 16.8.1973 von der Gemeinde R... (der Rechtsvorgängerin der Gemeinde
K...) im Zuge einer Umlegung zur Baulanderschließung. Der Vertrag enthält unter anderem
die Regelung, dass

die Erwerber und deren Rechtsnachfolger im Eigentum keine Erschließungskosten, gleich
welcher Art diese auch sein mögen und zu welchem Zeitpunkt sie bereits entstanden sind
bzw. noch entstehen werden, […] zu bezahlen [haben]. Dies wird den Erwerbern seitens
der Gemeinde […] ausdrücklich zugesichert.“

Mit Anliegerinformationsschreiben vom 28.7.2020 erläuterte der Antragsgegner seine
Absicht, das in den Jahren 1973–1975 im Vorstufenausbau hergestellte Erschließungsgebiet
„ I...“ im Endstufenausbau herzustellen. Der Ausbau solle im Frühjahr 2021 beginnen und
umfasse neben der durchgehenden Asphaltierung der Straßenflächen unter anderem die
beidseitige Herstellung eines Gehwegs entlang der W.... Als Anlieger der Straße seien die
Antragstellerinnen von der Baumaßnahme unmittelbar betroffen. Weiter heißt es im
Schreiben vom 28.7.2020, der

„voraussichtliche Vorausleistungsbetrag für dieses Grundstück beträgt unter
Berücksichtigung der ausbedungenen Erschließungsbeitragsfreiheit: 0,00 €.“

Im Februar 2021 setzte der Antragsgegner die Antragstellerinnen darüber in Kenntnis, dass
ihm Zweifel an der Rechtmäßigkeit der mit notariellem Vertrag vom 16.8.1973 verabredeten
Beitragsbefreiung erwachsen seien. Die Angelegenheit liege der Kommunalaufsicht zur
Prüfung vor.

Mit Schreiben vom 3.8.2021 erklärte der Antragsgegner, die rechtliche Überprüfung habe
ergeben, dass die Abrede nichtig und die Gemeinde K... daher nach § 127 BauGB
verpflichtet sei, die Antragstellerinnen zu Erschließungsbeiträgen heranzuziehen.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 26.8.2021 (Az. 60.42.3) setzte der Antragsgegner
für das 498 m2 große Grundstück der Antragstellerinnen (Parzelle ..., Flur..., Gemarkung
R...) einen Betrag von 9.359,59 Euro als Vorausleistung auf den für die endgültige
Herstellung der Erschließungsanlage W... voraussichtlich zu entrichtenden
Erschließungsbeitrag fest.

Hiergegen erhoben die Antragstellerinnen Widerspruch mit Schriftsatz vom 16.9.2021,
eingegangen am 20.9.2021.

Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Vorausleistungsbescheids (§ 80 Abs. 4
VwGO) lehnte der Antragsgegner in der Folge ab.

Am 30.11.2021 haben die Antragstellerinnen gerichtlichen Eilrechtsschutz beantragt.

Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 13.1.2022 die aufschiebende Wirkung ihres
Widerspruchs gegen den Vorausleistungsbescheid vom 26.8.2021 angeordnet. Zur
Begründung ist ausgeführt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Bescheids. Zwar finde die Heranziehung der Antragstellerinnen eine
hinreichende Grundlage in den §§ 127 ff. BauGB in Verbindung mit der Satzung der
Gemeinde K... über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen vom 7.11.1995. Der
Beitragserhebung stehe indes der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Die mit
notarieller Urkunde vom 16.8.1973 vereinbarte Erschließungsbeitragsfreiheit sei zwar eine
nichtige Ablösungsabrede. Das folge zum einen daraus, dass es nach dem unwidersprochen
gebliebenen Vortrag des Antragsgegners bei Vertragsschluss an wirksamen
Ablösungsbestimmungen im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB gefehlt habe. Solche
Bestimmungen seien indes nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
zwingende Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen eines Ablösungsvertrags, um
eine möglichst gleichmäßige Handhabung aller Ablösungsfälle zu gewährleisten. Zum
anderen folge die Nichtigkeit der Vereinbarung daraus, dass der konkrete Ablösebetrag
nicht erkennbar sei. Weder weise der Tauschvertrag vom 16.8.1973 die konkrete Höhe des
vereinbarten Betrags aus, noch sei geltend gemacht oder sonst erkennbar, dass die
Gemeinde den damaligen Grundstückserwerbern die zur Ablösung des
Erschließungsbeitrags zu entrichtende Summe vor Abschluss des Vertrags mitgeteilt hätte.
Ohne eine solche Offenlegung sei indes – mit der Folge der Nichtigkeit der Abrede – nicht
überprüfbar, ob der Ablösungsbetrag nach Maßgabe der Ablösungsbestimmungen oder
aber etwa willkürlich festgesetzt worden sei.

Die Verbindlichkeit der Vereinbarung könne aufgrund des großen öffentlichen Interesses
an einer rechtmäßigen Beitragserhebung grundsätzlich nicht unter Berufung auf den im
öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben aufrechterhalten
werden. Etwas anderes gelte aber hier, da das Berufen der Gemeinde auf die Nichtigkeit der
geschlossenen Vereinbarung für die Antragstellerinnen untragbare Folgen hätte. Zu sehen
sei, dass sie bzw. ihre Rechtsvorgänger jahrzehntelang – seit 1973 – im Vertrauen auf den
Bestand der notariellen Vereinbarung über ihr Vermögen disponiert hätten, wobei es mit
Blick auf die lange Zeitdauer und die Gesamtumstände in der Natur der Sache liege, dass sie
ihre Vermögensdispositionen nicht im Einzelnen erläutert hätten. Das Schreiben vom
28.7.2020 („voraussichtlicher Vorausleistungsbetrag: 0,00 €“), das der Antragsgegner unter
Beifügung seiner Amtsbezeichnung eigenhändig und damit formwirksam (§ 62 Abs. 1
KSVG) unterzeichnet habe, sei eine Bestätigung des jahrzehntelangen Verhaltens der
Gemeinde und stelle eine Zusicherung gemäß § 38 SVwVfG dar, dass ein
Erschließungsbeitrag nicht erhoben werde. Nach dem objektiven Empfängerhorizont sei
das Schreiben so zu verstehen, dass die im notariellen Vertrag vereinbarte
Erschließungskostenfreiheit nunmehr (weiter) gelte. Das in diesem Zusammenhang
verwendete Partizip „ausbedungen“ umschreibe eine vertragliche Abmachung und bedeute
seinem Wortsinn nach, dass etwas „von keiner Voraussetzung abhängig“ oder
„uneingeschränkt“ sei. An dieser Wertung könne auch das zugleich verwendete Wort
„voraussichtlich“ nichts ändern, da es sich nicht auf den Satzteil „der ausbedungenen
Erschließungsbeitragsfreiheit“ beziehe.

Ein Versuch des Verwaltungsgerichts, den Beschluss vom 13.1.2022 dem Antragsgegner am
Folgetag per De-Mail gegen elektronisches Empfangsbekenntnis zu übermitteln, schlug –
wie das Verwaltungsgericht auf Nachfrage des Senats am 1.4.2022 unter Vorlage eines
elektronischen Prüfvermerks mitgeteilt hat – aufgrund einer fehlerhaft eingetragenen
Empfängerkennung fehl. Auf die Übersendung des Beschlusses vom 13.1.2022 gegen Fax-
EB hat der Antragsgegner am 5.2.2022 den Zugang der Entscheidung bestätigt.

Am 10.2.2022 hat der Antragsgegner Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung
eingelegt, die er am 4.3.2022 begründet hat.

II.
Die Beschwerde hat Erfolg.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 147 Abs. 1
Satz 1 VwGO) erhoben worden. Maßgeblich für den Fristenlauf ist die per (Fax-
)Empfangsbekenntnis nachgewiesene Zustellung (§ 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 175 ZPO)
der angefochtenen Entscheidung am 5.2.2022. Eine frühere Zustellung im Wege des
elektronischen Rechtsverkehrs (§ 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 173 ZPO) kommt hier
erkennbar nicht in Betracht, nachdem der Zustellversuch, den das Verwaltungsgericht am
14.1.2022 per De-Mail (§ 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO) unternommen hat, unter
Verwendung einer fehlerhaften Empfängerkennung erfolgte, so dass das zuzustellende
Dokument dem Antragsgegner nicht zugehen konnte.

Die Beschwerde ist auch begründet. Das Vorbringen des Antragsgegners in seiner
Beschwerdebegründung, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Prüfung des
Senats begrenzt, gibt Veranlassung, die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerinnen vom 16.9.2021 gegen
ihre Heranziehung zu einer erschließungsbeitragsrechtlichen Vorausleistung mit Bescheid
vom 26.8.2021 ist nicht anzuordnen (§ 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Es
überwiegt das – gesetzlich vorausgesetzte, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO – öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids. Dieser unterliegt
entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bei der gebotenen summarischen Prüfung
keinen ernstlichen rechtlichen Zweifeln (dazu 1.). Auch ist nicht dargetan, dass die
Vollziehung für die Antragstellerinnen gleichwohl ausnahmsweise eine unbillige, nicht durch
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO) zur
Folge hätte (dazu 2.).

1. Die streitgegenständliche Heranziehung der Antragstellerinnen als Mitglieder einer
Erbengemeinschaft (vgl. § 134 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 BauGB)1 zu einer Vorausleistung in
Höhe von 9.359,59 Euro für die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage „ W...“ im
Endstufenausbau begegnet keinen ernstlichen Rechtmäßigkeitszweifeln.

a) Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass – wie auch das Verwaltungsgericht
angenommen hat – die Voraussetzungen der Erhebung einer Vorausleistung (§ 133 Abs. 3
Satz 1 BauGB) gegeben sind. Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme drängen sich dem
Senat nicht auf. Auch mit Blick auf die Höhe der festgesetzten Forderung sind Rechtsfehler
weder geltend gemacht noch sonst erkennbar.

In Streit steht alleine die Frage, ob der Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides die
notarielle Vereinbarung vom 16.8.1973 bzw. – darauf gründend – widersprüchliches
Verhalten der Gemeinde im Vorfeld der Beitragserhebung entgegensteht. Das ist zu
verneinen.

b) Zu Recht geht das Verwaltungsgericht zunächst davon aus, dass sich der angefochtene
Vorausleistungsbescheid nicht bereits als rechtswidrig erweist, weil mit notarieller Urkunde
vom 16.8.1973 die Erschließungsbeitragsfreiheit für das Grundstück der Antragstellerinnen
vereinbart wurde.

In der angefochtenen Entscheidung ist zutreffend und im Einklang mit der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts2 dargelegt, dass die 1973 erfolgte „Zusicherung“ der
Beitragsfreiheit als nichtige Ablösungsabrede im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB zu
qualifizieren ist, da – erstens – eine Gemeinde von der Möglichkeit des Ablösungsvertrages
aus Gründen der Abgabengerechtigkeit und -gleichheit nur wirksam Gebrauch machen
kann, wenn zuvor ausreichende Ablösungsbestimmungen erlassen worden sind, die
festlegen, wie der mutmaßliche Erschließungsaufwand zu ermitteln und zu verteilen ist,
woran es fallbezogen indes unstreitig fehlte. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die
Nichtigkeit der Abrede – zweitens – darauf gestützt, dass der vereinbarte Ablösebetrag nicht
hinreichend offengelegt wurde. Auch dieses Defizit begründet nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts die Nichtigkeit der Ablösungsabrede, da ohne eine solche
Offenlegung die Schranken, die der Gesetzgeber der Zulässigkeit von Ablösungsverträgen
gesetzt hat (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB), in ihrer tatsächlichen Auswirkung ins Leere
gingen.3 Wegen der Einzelheiten kann insofern auf die zutreffenden erstinstanzlichen
Ausführungen auf S. 7–9 des angefochtenen Beschlusses verwiesen werden.

Ergänzend ist festzuhalten, dass insbesondere der Einwand der Antragstellerinnen nicht
verfängt, der im Jahr 1973 vereinbarte Ablösebetrag trete hinreichend transparent zu Tage.
Er bestehe – so die Antragstellerinnen – darin, dass die Gemeinde damals im Zuge des
Tausches eine um rund 900 m2 größere Fläche erhalten habe, als sie übertragen habe, und
dafür im Gegenzug, gleichsam als wirtschaftlich adäquate Gegenleistung, auf die Erhebung
des Erschließungsbeitrags verzichtet habe.4 Diese „Berechnung“ des Ablösebetrags
verbietet sich bereits, weil die Parteien des Tauschvertrags auf S. 4 der Urkunde vom
16.8.1973 ausdrücklich die Gleichwertigkeit des getauschten Grundbesitzes festgehalten
haben. Zudem ist die anhand der Bodenrichtwerte 2020 „errechnete“ Differenz für das
maßgebliche Datum des Vertragsschlusses (1973) erkennbar fiktiv und ermöglicht in keiner
Weise die Überprüfung des vereinbarten Ablösebetrags. Die Vereinbarung in dieser Weise
„verdeckter“ Ablösungsbeträge ist nicht statthaft.

Abgesehen von alldem blendet die Argumentation der Antragstellerinnen aus, dass es sich
bei den von ihren Rechtsvorgängern in den damaligen Tausch eingebrachten Grundflächen
um Ackerland handelte, während die drei seitens der Gemeinde übertragenen Grundstücke,
unter anderem das streitige Grundstück Flur... Parzelle Nr. ..., infolge der freiwilligen
Umlegung und der Erstellung eines Bebauungsplans als Baugrundstücke zugeteilt werden
konnten. Dass das Grundstück ... im Tauschvertrag als „Hof- und Gebäudefläche, B… …“
bezeichnet ist, berücksichtigt nicht, dass diese Bezeichnung nur auf den zur B... gelegenen
Grundstücksteil zutrifft, der nicht Gegenstand der Tauschvereinbarung war; der vom
Tausch betroffene Grundstücksteil hatte ausweislich des in der Verwaltungsakte
befindlichen Katasterauszugs betreffend die Lage und den Zuschnitt der Grundstücke vor
Abschluss des Tauschvertrags ebenso wie das Grundstück ... die Bodenqualität Ackerland.
Vor diesem Hintergrund spricht nichts für die Behauptung, die von den Rechtsvorgängern
der Antragstellerinnen in den Tausch eingebrachten Grundstücke seien wegen ihrer Größe
(2.659 m2) von höherem Wert als die erhaltenen Grundstücke (1.755 m2) gewesen.6

c) Aller Voraussicht nach nicht zu folgen ist dem Verwaltungsgericht indes in seiner
Einschätzung, der Bescheid vom 26.8.2021 sei rechtswidrig, da sich die Beitragserhebung als
treuwidrig darstelle. Das jahrzehntelange Verhalten des Antragsgegners habe, so der
erstinstanzliche Beschluss, das schutzwürdige Vertrauen der Antragstellerinnen begründet,
ein Erschließungsbeitrag werde nicht erhoben. Dieses Vertrauen habe der Antragsgegner
zuletzt mit Schreiben vom 28.7.2020, das zugleich eine Zusicherung (§ 38 SVwVfG)
darstelle, bekräftigt.

(1) Zu Recht macht die Beschwerdebegründung demgegenüber geltend, dass das
Anliegerinformationsschreiben vom 28.7.2020 keine Zusicherung im Sinne des § 38
SVwVfG dahingehend enthält, der Antragsgegner werde (auch) künftig davon absehen,
einen Erschließungsbeitrag zu erheben. Dem Schreiben kann ein Rechtsbindungswille der
Gemeinde – insbesondere im Sinne eines Verzichts (§ 135 Abs. 5 Satz 1 BauGB) bzw. einer
entsprechenden Zusicherung – nicht entnommen werden.

Von einem Verzicht auf die Erhebung von Beiträgen kann regelmäßig nur dann die Rede
sein, wenn die Verzichtserklärung eindeutig ist.7 Eine solche gemeindliche Erklärung muss
gegenüber dem Beitragspflichtigen eine eigenständige Regelung enthalten und eine
selbstständig verbindliche Verfügung darstellen. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts8 sind dabei aufgrund der im Grundsatz unabdingbaren
gesetzlichen Verpflichtung der Gemeinden zur Beitragserhebung (vgl. § 127 Abs. 1 BauGB)
an die Annahme eines Verzichtswillens hohe Anforderungen zu stellen. Im Zweifel ist nicht
der innere, sondern der erklärte Wille maßgebend, wie ihn der Empfänger bei verständiger
Würdigung des objektiven Erklärungswerts und der weiteren Begleitumstände, insbesondere
des Zwecks der Erklärung, verstehen konnte (objektiver Empfängerhorizont). Insofern ist
unter anderem von Bedeutung, ob eine gemeindliche Äußerung lediglich als
Wissenserklärung bzw. als „Zwischenschritt“ (etwa als Kundgabe des aktuellen Stands der
kommunalen Willensbildung) einzuordnen ist, oder aber als abschließende
rechtsverbindliche Äußerung einer (Verzichts-)Entscheidung.9

Nach dieser Maßgabe überzeugt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht, der
Antragsgegner habe mit Schreiben vom 28.7.2020 gegenüber den Antragstellerinnen
rechtsverbindlich erklärt, ein Erschließungsbeitrag werde künftig nicht erhoben.

Gegen die Annahme eines Verzichtswillens spricht bereits die Tatsache, dass das als
„Anliegerinformation“ überschriebene Schreiben sich im Wesentlichen inhaltsgleich
erkennbar an alle Anlieger der streitgegenständlichen und der benachbarten
Erschließungsanlage richtete und primär dem Zweck diente, alle Betroffenen über Ablauf
und Kosten der Baumaßnahmen nach dem damaligen Planungsstand in Kenntnis zu setzen.
Ein verbindlicher Verzicht (bzw. eine entsprechende Zusicherung) gegenüber den
Antragstellerinnen kann dem Schreiben zudem – worauf der Antragsgegner zutreffend
hinweist – schon mit Blick auf seinen Wortlaut nicht entnommen werden. Denn der in
Aussicht gestellte Beitrag von „0,00 €“ ist dort (nur) als „voraussichtlicher
Vorausleistungsbetrag“10 bezeichnet und stellt sich damit gerade nicht als abschließende
Entscheidung dar. Hinzu kommt, dass das genannte Schreiben die Beitragsfreiheit der
Antragstellerinnen ausdrücklich mit einem Hinweis auf die im Jahr 1973 „ausbedungene
Erschließungsbeitragsfreiheit“ begründet. Es handelt sich dabei um einen bloßen Hinweis
auf eine zu einem früheren Zeitpunkt getroffene Abrede. Es liegt bei verständiger
Würdigung hingegen fern, dass der Antragsgegner mit dieser Passage die Rechtsfolge der
Beitragsfreiheit im Juli 2020 konstitutiv herbeiführen wollte, zumal die Nichtigkeit der
notariellen Ablösungsabrede zu diesem Zeitpunkt zwischen den Beteiligten – wie die
Antragstellerinnen selbst ausführen11 – noch nicht thematisiert worden war.

Lässt sich dem Schreiben vom 28.7.2020 damit kein rechtsverbindlicher Wille der
Gemeinde entnehmen, auf die Erhebung des Erschließungsbeitrags zu verzichten, kommt
es auf die weiter aufgeworfene Frage, ob eine solche Regelung wirksam wäre bzw. in der
Folge (konkludent) zurückgenommen wurde, nicht an. Dahinstehen kann zugleich die nach
Aktenlage nicht abschließend zu beurteilende Frage, ob die dem Schreiben beigefügte
Unterschrift des Antragsgegners (lediglich) eine serielle Wiedergabe einer eingescannten
Unterschrift darstellen könnte12, und ob die erstinstanzliche Annahme, die Formvorschrift
des § 62 Abs. 1 Satz 2 KSVG („handschriftlich unterzeichnet“) sei erfüllt, sich auf dieser
Grundlage als tragfähig erwiese.

(2) Der Vorausleistungsbescheid vom 26.8.2021 ist aller Voraussicht nach auch nicht wegen
eines Verstoßes gegen Treu und Glauben rechtswidrig.

Dabei kann letztlich offenbleiben, ob sich die Heranziehung der Antragstellerinnen in der
Sache als treuwidrig darstellt, da sie aufgrund der notariellen Vereinbarung des Jahres 1973
über lange Zeit – jedenfalls seit 2014 (Eintritt der Erbfolge) – in der Erwartung lebten, für
ihr Grundstück werde ein Erschließungsbeitrag nicht erhoben und der Antragsgegner dieses
Vertrauen – wenngleich ohne Rechtsbindungswillen – mit Schreiben vom 28.7.2020
bestärkt hat.

Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass die Pflicht, Treu
und Glauben zu genügen, sich auf das öffentliche Recht erstreckt.13

Jedoch schließt § 135 Abs. 5 Satz 1 und 2 BauGB, wonach die Gemeinde von der Erhebung
des Erschließungsbeitrags ganz oder teilweise absehen bzw. freistellen kann, wenn dies im
öffentlichen Interesse oder zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist, den Einwand
unzulässiger Rechtsausübung auf Festsetzungsebene nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts als spezialgesetzliche Regelung für die Fallgruppe eines
widersprüchlichen Verhaltens der Gemeinde im Vorfeld einer
Erschließungsbeitragserhebung aus.14 Die Frage des treuwidrigen Verhaltens der Gemeinde
ist in diesen Fällen, anders ausgedrückt, erst auf der nachgelagerten Ebene des
Beitragserlasses nach Maßgabe des § 135 Abs. 5 BauGB zu prüfen, berührt aber die
Rechtmäßigkeit der alleine in Streit stehenden Festsetzung eines erschließungsrechtlichen
(Vorausleistungs-) Beitrags nicht.

In diesem Sinne hat der Senat bereits entschieden, dass aus einer rechtsunwirksamen Zusage
der Gemeinde, einen bestimmten Beitrag nicht zu erheben, in Ausnahmefällen die Pflicht
zu einem Billigkeitserlass folgen kann.15 Der Anspruch auf eine solche
Billigkeitsentscheidung kann nach Durchlaufen eines entsprechenden Vorverfahrens mit der
Verpflichtungsklage geltend gemacht werden.16 Das gilt auch, wenn die Gemeinde
offensichtlich erkennbare Umstände, die aus sachlichen Gründen einen (Teil-
)Billigkeitserlass nach § 135 Abs. 5 BauGB gebieten mögen, im Heranziehungsverfahren
nicht berücksichtigt.17

Lediglich der Vollständigkeit halber – und ohne, dass es streitentscheidend darauf
ankäme18 – weist der Senat darauf hin, dass die Annahme einer unbilligen (treuwidrigen)
Härte im Verständnis des § 135 Abs. 5 BauGB fallbezogen nach Lage der Akten in der
Sache problematisch erschiene.

Zwar betonen die Antragstellerinnen zu Recht, dass sie seit erheblicher Zeit in der
Erwartung lebten (und wirtschafteten), an den Kosten der Herstellung der „ W...“ nicht
beteiligt zu werden, zumal das 1973 begründete Vertrauen in die
Erschließungsbeitragsfreiheit dadurch bekräftigt wurde, dass eine Heranziehung zu einer
ersten Vorausleistung anlässlich des Vorstufenausbaus der Anlage (1973–1975) nach
unbestrittener Einlassung der Antragstellerinnen19 unterblieben ist. Hinzu kommt, dass das
Anliegerinformationsschreiben vom 28.7.2020, wie dargestellt, auf die notarielle Abrede
ohne Einschränkung Bezug nimmt.

Dem steht jedoch gegenüber, dass sich ein Abgabenschuldner in Ansehung einer wegen
eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtigen Vereinbarung, auf deren Bestand
sich sein Vertrauen maßgeblich stützt, nicht darauf berufen kann, es verstoße gegen Treu
und Glauben, wenn diese Vereinbarung nicht als rechtswirksam behandelt werde.20 Im
Erschließungsbeitragsrecht kommt allgemein dem öffentlichen Interesse an einer
rechtmäßigen Beitragserhebung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften mehr Gewicht
zu als dem Interesse eines Anliegers, der sich auf Treu und Glauben beruft. Nur auf diese
Weise kann eine – mit Blick auf die dem Erschließungsbeitragsrecht immanenten
Grundsätze der Abgabengerechtigkeit und Abgabengleichheit gebotene – möglichst
gleichmäßige Heranziehung aller Beitragspflichtigen sichergestellt werden. Das Berufen der
Gemeinde als Beitragsgläubigerin auf die Nichtigkeit einer Ablösungsvereinbarung kann
sich als treuwidrig darstellen, wenn daraus für den Beitragsschuldner untragbare seine
Existenz berührende Folgen erwüchsen.21

Dafür spricht fallbezogen indes wenig, zumal der gesetzes- und satzungsmäßige
Erschließungsbeitrag nur die dem erschlossenen Grundstück durch die
Straßenbaumaßnahme gebotenen und fortbestehenden Vorteile ausgleicht. Hinzu kommt,
dass die Parteien des Tauschvertrags 1973 – wie erwähnt – von der Gleichwertigkeit des
eingebrachten Ackerlandes und des zugeteilten Baulandes ausgingen, so dass eine
wirtschaftliche Übervorteilung der damaligen Erwerber bzw. der Antragstellerinnen durch
den Anfall von Erschließungsbeiträgen nicht erkennbar ist.

Im Übrigen erscheint nach Aktenlage fraglich, ob die (einzig) mit Schriftsatz vom 23.3.2020
näher angeführte Vermögensdisposition, die „dringend notwendige Renovierung eines
Badezimmers der Familie R... […] im Frühjahr 2021“ auf Grundlage im Oktober 2020
eingeholter Angebote eine hinreichende Darlegung der Betätigung geschützten Vertrauens
darstellt. Denn zum einen wurde die geltend gemachte finanzielle Belastung nicht näher
substantiiert und zum anderen hatte der Antragsgegner bereits mit Schreiben vom 4.2.2021
Zweifel an der Wirksamkeit der notariell beurkundeten Beitragsfreiheit geäußert.

d) Den Antragstellerinnen kann schließlich nicht darin gefolgt werden, der angefochtene
Bescheid sei rechtswidrig, da es den „grundsätzlichen Erwägungen“ des
Bundesverfassungsgerichts zu Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Beschluss vom
3.11.2021 – 1 BvL 1/19 –) widerspreche, wenn der Antragsgegner nunmehr Beiträge
erhebe. Die W... werde – so die Antragstellerinnen – schon seit vielen Jahrzehnten durch
den öffentlichen Verkehr genutzt, so dass sie hätten annehmen dürfen, dass die
Erschließungsanlage seit langem endgültig hergestellt sei. Zu beachten sei in diesem
Zusammenhang darüber hinaus, dass sie an den Kosten des Vorstufenausbaus nicht
beteiligt worden seien und ihr Vertrauen auf die Beitragsfreiheit aufgrund des Schreibens
vom 28.7.2020 schutzwürdig sei.

Dieses Vorbringen verfängt nicht. Nach der angeführten Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist verfassungsrechtlich verbürgt, dass Betroffene nicht
dauerhaft im Unklaren darüber gelassen werden, ob sie zu einem Erschließungsbeitrag
herangezogen werden. Das Rechtsstaatsprinzip schützt in seiner Ausprägung als Gebot der
Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher
Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen
werden können.22

Mit seiner Forderung nach einer zeitlichen Begrenzung der Heranziehung der Bürger zu
Abgaben zum Vorteilsausgleich knüpft das Gebot der Belastungsklarheit und -
vorhersehbarkeit an den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage an. Der mit dem
Erschließungsbeitrag abzugeltende Vorteil besteht dabei in der tatsächlichen bautechnischen
Durchführung der Erschließungsmaßnahme. Der Eintritt der Vorteilslage setzt damit
voraus, dass die beitragsfähige Erschließungsanlage für den Beitragspflichtigen erkennbar
den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspricht. Die Anlage muss dazu
jedenfalls die in der Satzung geregelten Merkmale der endgültigen Herstellung (vgl. § 132
Nr. 4 BauGB) und die nach dem Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen
aufweisen.23

Nach dieser Maßgabe ist eine Vorteilslage, die das Vertrauen auf ein Ausbleiben der
Beitragsfestsetzung zu begründen imstande sein könnte, vorliegend nicht zu erkennen.

Zwar war die (wohl) 1975 gewidmete24 W... nach unbestrittener Einlassung der
Antragsstellerinnen seit dem Vorstufenausbau befahrbar. Zudem ergibt sich aus der
Verwaltungsakte,25 dass im Jahr 1977 beschlossen wurde, die Straße auf einem Teilstück
entlang des Kirchengeländes (zwischen B... und der Abzweigung I...) zur Sicherung des
Fußverkehrs endgültig herzustellen. Damit entsprach die Erschließungsanlage jedoch für die
Anlieger erkennbar (noch) nicht den an sie zu stellenden technischen Anforderungen. Denn
das Bauprogramm des Endstufenausbaus umfasst mit der beidseitigen Herstellung eines
Gehwegs entlang der W...26 ein Merkmal der endgültigen Herstellung der
Erschließungsanlage, vgl. § 8 Nr. 2 lit. a) der Satzung der Gemeinde K... über die Erhebung
von Erschließungsbeiträgen. Darüber hinaus hat der Antragsgegner unwidersprochen
vorgetragen, die Erschließungsanlage habe zuvor nur eine provisorische Asphaltdecke
besessen.27

2. Bestehen jedenfalls an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen
Vorausleistungsbescheids keine ernstlichen Zweifel, überwiegt das gesetzlich vorausgesetzte
öffentliche Vollzugsinteresse. Eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 Var. 2 VwGO) ist nicht ersichtlich. Es ist
nicht hinreichend dargetan, dass den Antragstellerinnen durch die Vollziehung des
Bescheids vor Eintritt der Bestandskraft Nachteile entstünden, die über die Belastungen
hinausgehen, die allgemein in der Zahlung des geschuldeten Beitrags liegen und die nicht
oder nur schwer wiedergutzumachen sind, etwa weil die Zahlung die Insolvenz
herbeiführen oder sonst zur Existenzvernichtung führen kann.28 Eine solche Annahme
folgt insbesondere nicht aus dem nicht näher substantiierten Vortrag zur Renovierung eines
Badezimmers im Jahr 2021.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 63 Abs. 2,
53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 3 Satz 1, 47 Abs. 1 GKG in Verbindung mit der Empfehlung in
Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (1/4 x 9.359,59
Euro).

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.

Art:

Entscheidung, Urteil

Gericht:

OVG Saarlouis

Erscheinungsdatum:

08.06.2022

Aktenzeichen:

1 B 30/22

Rechtsgebiete:

Öffentliches Baurecht
Verfahrensrecht allgemein (ZPO, FamFG etc.)
Kommunalrecht

Normen in Titel:

BauGB §§ 127, 132, 133, 135 Abs. 5